Wahlvorstände sind politische Gremien!

Wichtige Aufgaben und Handlungsspielräume von Wahlvorständen bei der Betriebsratswahl

Bei Gorillas in Berlin soll in diesem Monat ein Betriebsrat gewählt werden. Was die Wahl motiviert hat und wie steinig der Weg war, wurde hier schon dargestellt. Das Gorillas Workers Collective (GWC) und das gewagte Vorgehen der Kolleg*innen rund um den Wahlvorstand werden aber nicht von allen begrüßt. Jüngst hat ein Kollege von ver.di aus dem Fachbereich Handel im ipg-journal kritisch kommentiert, dass der Wahlvorstand kein politisches Gremium sei, sondern sich an spezifische gesetzliche Regelungen halten müsse.

Wer die Aufgabe des Wahlvorstandes auf das trockene Erfüllen der Vorgaben der Wahlordnung reduziert (Fristen, Formulare und sonstige Wahl-Bürokratie), wird seiner Bedeutung nicht gerecht – und bedient darüber hinaus ein verbreitetes Vorurteil. Selbstverständlich muss sich der Wahlvorstand an die Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes und der Wahlordnung halten. In diesem Rahmen stehen ihm aber Handlungsspielräume  auf der Grundlage der (rechtlichen) Beurteilungsspielräume offen. Diese Spielräume kann er betriebspolitisch nutzen – und sollte dies auch tun. Das bedeutet also: Wahlvorstände sind sehr wohl  Gremien mit politischer Ausstrahlung! Sie sind demokratisch legitimiert; bei der Erstwahl werden sie meist von der Belegschaft direkt gewählt, in anderen Fällen vom gewählten Betriebsrat oder Gesamtbetriebsrat bestellt.  Um diese Möglichkeiten auch nutzen zu können, ist eine Schulung des Wahlvorstandes unverzichtbar, am besten natürlich durch eine Organisation, Institution, die einen parteiischen Blick auf die Betriebsverfassung hat. Die Auseinandersetzung z.B. mit dem „Betriebsbegriff“ braucht zweierlei:  Ein Verständnis davon, dass das Recht der Betriebsverfassung eben auch Organisationsrecht der abhängig Beschäftigten ist und ein Kennen der rechtlichen (Un)Möglichkeiten in einer natürlich offensiven Interpretation der Gesetzeslage.

Die Betriebsratswahlen 2022 stehen vor der Tür. Um die Wahlen zu organisieren, werden derzeit in vielen Betrieben Wahlvorstände eingesetzt. Vor diesem aktuellen Hintergrund ist es besonders wichtig, die (betriebs-)politische Dimension der Arbeit von Wahlvorständen noch einmal zu beleuchten. Im Folgenden werden fünf dieser Aspekte näher beschrieben und mit Beispielen aus der Praxis untermauert.

  1. Der Wahlvorstand klärt: Wer nimmt an der Betriebsratswahl teil?

Bei Gorillas war unter anderem strittig, wer an der Betriebsratswahl teilnehmen darf. So genannte „leitende Angestellte“ haben weder das passive noch das aktive Wahlrecht. In der Praxis ist es oft nicht einfach, genau zu bestimmen, wer im Betrieb leitende*r Angestellte*r ist. Dem Wahlvorstand kommt hier die Aufgabe zu, das Gesetz auszulegen und folgerichtig festzulegen, wer leitende*r Angestellte*r ist und wer nicht. Dies kann ggf. gerichtlich überprüft werden, aber der Wahlvorstand schafft zuerst Tatsachen. Das hat oft betriebspolitische Konsequenzen. Denkbar ist, dass der Arbeitgeber ein Interesse daran hat, dass leitende Angestellte an der Wahl teilnehmen, weil er sich von ihnen besondere Loyalität bei der Stimmabgabe oder gar die Bildung einer gelben Liste erhofft. Andersherum könnte der Arbeitgeber auch den Wunsch haben, einfache Arbeitnehmer*innen als leitende Angestellte zu klassifizieren, um sie von der Wahl auszuschließen. Der Wahlvorstand muss hier politisch denken, die Konstellation erkennen und im Interesse der Belegschaft entscheiden.

  • Der Wahlvorstand definiert: Was ist „der Betrieb“, für den gewählt wird?

Eine kritische Analyse und das entschlossene Vorgehen des Wahlvorstands sind essenziell wichtig, wenn es darum geht, für welche Einheit überhaupt gewählt werden soll. Was ist „der Betrieb“? Auch über diese Frage entscheidet in erster Linie der Wahlvorstand. Bei Gorillas wurde dieser Punkt relevant, als der Arbeitgeber kurzerhand ein zweites Unternehmen gründete und alle Beschäftigten in den Betrieb des neuen Unternehmens übergehen ließ. Ganz aktuell erfährt das Thema erneute Relevanz, denn Gorillas will kurz vor der Wahl die Betriebsstruktur verändern: Jedes Warenlager soll ein einzelner Betrieb sein. Ein großer Betriebsrat für ganz Berlin soll damit verhindert werden.

Etwas anders ist der Fall bei Lieferando in Darmstadt. Dort existiert keine feste Niederlassung, die in anderen Städten das Bestehen eines Betriebes markiert. Der eingesetzte Wahlvorstand hatte dennoch eine Wahl für alle Darmstädter Kolleg*innen durchgeführt und seine Rechtsauffassung in die Tat umgesetzt. Sinnvolle Betriebsratsarbeit ist nur vor Ort möglich. Der gewählte Betriebsrat muss sich nun gegen die Wahlanfechtung des Arbeitgebers wehren, aber er ist im Amt.

Einen besonders mutigen Fall gab es bei Footlocker in Berlin. In der Vergangenheit hat der Arbeitgeber immer wieder betont, dass jeder Store ein eigener Betrieb sei. Die Betriebsräte waren daher meist nur einköpfig. Als der Arbeitgeber die Anzahl der Arbeitnehmer*innen im Store des GBR-Vorsitzenden auf vier reduzierte, wollte er den dortigen Betriebsrat sogar ganz abwickeln. Die Kolleg*innen in Berlin wehrten sich, traten geschlossen zurück und setzten einen mutigen Wahlvorstand ein. Der Wahlvorstand stellte fest, dass nicht jeder einzelne Store, sondern die ganze Region Berlin ein Betrieb sei und leitete die Wahl für einen 7-köpfigen, kampfkräftigen Betriebsrat ein. Natürlich hat sich der Arbeitgeber gewehrt und die Wahl angefochten. Der Betriebsrat hat aber bereits in der ersten Instanz gewonnen und leistet seit Monaten hervorragende Arbeit in der neuen Besetzung.

  • Der Wahlvorstand prüft: die Größe des zu wählenden Betriebsrates

Ebenso wichtig ist der Wahlvorstand, wenn es um die Größe des zu wählenden Betriebsrates geht. Im Einzelhandel kann man immer wieder beobachten, dass vor den regulären Betriebsratswahlen die Anzahl der in den einzelnen Betrieben beschäftigten Arbeitnehmer*innen nach unten korrigiert wird. Die Arbeitgeber möchten so erreichen, dass bei den Betriebsratswahlen möglichst kleinere Gremien gewählt werden, zum Beispiel nur noch 5 statt 7 Betriebsratsmitglieder. Auch hier muss der Wahlvorstand politisch handeln. Er hat die Möglichkeit, die Größe des zu wählenden Betriebsrates nicht nach der aktuellen Zahl der Arbeitnehmer*innen im Betrieb zu bestimmen, sondern nach der „in der Regel beschäftigten“ Anzahl. Durch Rückschau und Prognose kann er argumentieren, dass der Betriebsrat in der Regel mehr Kolleg*innen zu vertreten hat und deshalb auch mehr Mitglieder haben muss. Zwei weitere BR-Mitglieder, die vier Jahre die Interessen der Kolleg*innen vertreten, können einen großen Unterschied machen. Auch hier ist es der Wahlvorstand, der Tatsachen schafft.

  • Der Wahlvorstand legt fest: den geeigneten Wahltermin

Auch vermeintlich kleine Fragen können direkten oder indirekten Einfluss auf den Ausgang der Wahl, auf die Wahlbeteiligung und die Zusammensetzung des Betriebsratsgremiums haben: Der Wahlvorstand entscheidet über das Datum der Wahl. Wer ist an diesem Tag im Betrieb? Wer ist vielleicht im Urlaub? Handelt es sich um einen besonders geschäftigen Tag, wird der Arbeitgeber versuchen, einen anderen Termin durchzusetzen, denn die Betriebsratswahl stört den Betriebsablauf. Um einen Wahltermin mit einer potenziell hohen Wahlbeteiligung zu finden, muss der Wahlvorstand erneut politisch denken und sich gegen die Arbeitgeberseite durchsetzen. Da Kolleg*innen erst kandidieren können, wenn sie bereits sechs Monate im Betrieb sind, kann der Wahlvorstand auch hier mit der Auswahl des Wahltermins den Unterschied ausmachen und einzelnen Arbeitnehmer*innen die Kandidatur ermöglichen.

  • Der Wahlvorstand leistet: politische Wahlvorstandsarbeit, ohne parteiisch zu sein

Der Wahlvorstand steht im Dienste der Betriebsratswahlen und vertritt dabei die Interessen der Belegschaft. Er muss die Wahlen so organisieren, dass sich möglichst viele Kolleg*innen beteiligen können und ein arbeitsfähiger und durchsetzungsstarker Betriebsrat gewählt werden kann. Den Einfluss der Arbeitgeberseite hat er dabei zurückzudrängen. Das heißt: politische Wahlvorstandsarbeit machen. Parteiisch darf der Wahlvorstand hingegen nicht sein. In der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kandidat*innen und Listen muss er unbedingt neutral sein, sonst gefährdet er selbst die Legitimität der Wahl.

Nicht zuletzt: Der Wahlvorstand ist auch Repräsentant der Betriebsratswahl. Neben seinen rechtlichen Ermessensspielräumen sollte er diese repräsentative Rolle nutzen, um Werbung für die Institution Betriebsrat und die Mitbestimmung an sich zu machen. Gerade in kleineren Betrieben werben Wahlvorstände auch neue Kandidat*innen und stellen sicher, dass sich auch genug Kolleg*innen aufstellen lassen. Sie halten dem Betriebsrat den Rücken frei, damit dieser bis zum letzten Amtstag tätig sein kann.

Dieser Artikel ist auch als Grußwort an die vielen Tausend Wahlvorstandsgremien zu verstehen, die in diesen Tagen ihre Arbeit aufnehmen. Euer Job ist wichtig – ohne Wahlvorstand kein Betriebsrat. Wenn das nicht politisch ist, was dann?