Fünf Vorzüge einer Listenwahl

zwei Wahlmodi

Die Wahlordnung kennt zwei verschiedene Wahlverfahren: Die Listen- und die Personenwahl. Der wesentliche Unterschied ist: Bei der Listenwahl wird nicht für einzelne Personen gestimmt, sondern für eine Liste und alle ihre Personen. Wie wird entschieden, welcher Wahlmodus bei einer Betriebsratswahl zum Zuge kommt? Ganz einfach: sobald jemand eine zweite Liste initiiert und das Minimum an Stützunterschriften einsammelt, ist die Listenwahl herbeigeführt. Der Wahlvorstand hat dagegen keinen direkten Einfluss darauf, ob eine Personen- oder eine Listenwahl durchgeführt wird.

Durch meine Arbeit als Wahlvorstand und Betriebsrat weiß ich, dass es Kolleg*innen und Betriebsräte gibt, denen die Listenwahl nicht geheuer ist, gar als schädlich oder undemokratisch gilt. Für diesen Argwohn, verbunden mit der Bevorzugung der Personenwahl, kenne ich bisher keine überzeugenden Gründe. Ich möchte im Folgenden sogar die Gegenthese vertreten: Listenwahlen haben da, wo sie möglich sind, mehr Vorzüge als Personenwahlen.

Was spricht für die Listenwahl?

(1) Mehr Mobilisierung

Die Listenwahl hilft, mit einer in unserer Zeit um sich greifenden Ausgangslage umzugehen, die Betriebsratsarbeit erheblich erschwert: Betriebe, deren Mitarbeiter nur sehr begrenzt ein kollegiales Verhältnis zueinander entwickeln können, weil es schlicht keinen Ort gibt, an dem sie sich in ihrem Arbeitsalltag begegnen: keine Werkshalle, kein gemeinsames Büro, keine Kantine, kein Lehrerzimmer, nicht einmal eine Eingangstür, vor der man gemeinsam eine Raucherpause einlegt. In solchen „ortlosen“, abstrakten oder buchstäblich in hunderte Teile zersplitterten Betrieben steht Betriebsratsarbeit vor der schwierigen Aufgabe, überhaupt erst einmal das Interesse der KollegInnen für die Existenz ihres Betriebsrates zu wecken,

Jede Liste ist bestrebt, personell gut aufgestellt zu sein und für ihre Ziele genug Stimmen und persönliche Fähigkeiten in die Waagschale werfen zu können. Entsprechend größer sind die Anstrengungen, viele und starke Kandidat*innen für die eigene Liste zu gewinnen. Sicher kann es dabei vorkommen, dass sich die Listen gegenseitig Kandidat*innen abjagen. Aber entscheidender ist, dass die absolute Zahl der geworbenen Kandidat*innen bei einer Listenwahl höher ist als bei einer Personenwahl. Die Listenwahl hat also ein höheres Potential zur Mobilisierung geeigneter Kandidat*innen.

(2) Fokus auf die Inhalte

Wie bei fast allen Wahlen spielt auch bei einer Betriebsratswahl die Bekanntheit der Kandidat*innen, oder auch die persönliche Bekanntschaft mit ihnen, eine große Rolle. Bei einer Personenwahl ist dies offensichtlich die ausschlaggebende Größe: Man macht seine Kreuze bei den Personen, die man kennt und die in der Vergangenheit positiv oder wenigstens nicht negativ aufgefallen sind. Natürlich spielt dieses Kriterium auch bei einer Listenwahl eine wichtige Rolle – schließlich hat der Wahlvorstand die Listenmitglieder bekanntgegeben und je zwei Vertreter*innen jeder Liste stehen auch namentlich auf dem Stimmzettel. Aber bei der Listenwahl erhält die Personalisierung ein Gegengewicht durch das, wofür die Listen mit ihren unterschiedlichen Programmen, Zielen, Erfolgen der Vergangenheit usw. stehen. Wenn sich die Listen nicht nur personell, sondern auch in Programmatik voneinander unterscheiden, haben die Wahlberechtigten eine echte Wahl – was wiederum eine mobilisierende Wirkung hat.

(3) Mehr Interesse an der Arbeit des Betriebsrates

Die mobilisierende Wirkung einer in diesem Sinne echten Wahl kann sich in einer höheren Wahlbeteiligung und in anhaltendem Interesse an der Arbeit des neuen Betriebsrats zeigen: So wollen die WählerInnen etwa wissen und überprüfen, was „ihre“ Liste von ihrem Programm einbringen und umsetzen konnte. Wenn sich die Listen programmatisch binden, erhält der zukünftige Betriebsrat durch die Stimmabgabe für diese Programme wie auch durch die prozentuale Gewichtung der Programminhalte im Wahlergebnis einen inhaltlich bestimmten Wähler*innenauftrag.

(4) Schutz für Minderheitenpositionen

Gegen die Meinung, Personenwahlen führten zu mehr Einigkeit als Listenwahlen, würde ich einwenden, dass es auch nach Personenwahlen zu Konflikten kommt, die nicht selten zu Rücktritten oder Inaktivität von im Konflikt unterlegenen Mitgliedern führen. Die „Überlebenden“ solcher post-elektoralen Konflikte führen dann einträchtig und ungestört die Geschäfte weiter.  Die Frage ist: hätten sie diese unangefochtene Position auch dann erhalten, wenn sie sich als Liste zur Wahl gestellt hätten? Oder hätten nicht gerade die später Zurückgetretenen, wenn sie sich als Liste formiert hätten, die Mehrheit gewonnen – oder zumindest einen so beachtlichen Anteil der Stimmen, dass sie nach der Wahl nicht so schnell aufgegeben hätten? Die Listenwahl wirkt also auch als Schutz für Minderheitenpositionen und für zarter besaitete Kolleg*innen – und zwar umso mehr, je klarer und überzeugender sich eine Liste vor der Wahl inhaltlich positioniert und dafür Stimmen bekommen hat.

(5) Versachlichung von Konflikten

Konflikte werden von vornherein sachlicher, vorsichtiger und weniger persönlich geführt, wenn man sich bewusst ist, dass man nicht so sehr mit einer einzelnen Person streitet, sondern mit einer Liste, die einen bestimmten Wähler*innenwillen vertritt. Ein einzelnes Mitglied kann nicht so leicht eingeschüchtert, an den Rand gedrängt oder vergrault werden, wenn es im Schutz einer Liste steht.

Das Betriebsverfassungsgesetz steht, indem es die Listenwahl vorsieht, für eine plurale Demokratie.  Gegen die Herbeiführung einer Listenwahl wurde eingewandt, dass dies die Belegschaft spalte und den Betriebsrat schwäche, weil er dann dem Arbeitgeber nicht mit einer Stimme entgegentreten könne. Dieses Argument mag von echter Sorge um die Interessen der Arbeitnehmer*innen getragen sein. Es ist aber eher umgekehrt: Man schwächt den Betriebsrat, wenn man die Bereitschaft von Kandidat*innen zur Vielstimmigkeit, zum Dissens, zum Austragen von Konflikten ablehnt oder gar als „spaltend“ abwertet. Die Stärke eines Betriebsrates zeigt sich wesentlich in seiner Konfliktfähigkeit. Zu dieser gehört beides: die Fähigkeit, sich zu einigen, Kompromisse zu finden ebenso wie die Bereitschaft, sich auf der Suche nach dem besten Weg wenigstens vorübergehend zu entzweien. Genau das ist es, was die Gründung einer Liste bedeutet. Die Handlungs- und Beschlussfähigkeit des Betriebsrats wird dadurch in keiner Weise gemindert. Wenn ein Gremium in einer wichtigen Frage keine Einigkeit erreichen kann, wird eben abgestimmt.

Jan Köttner, Betriebsratsvorsitzender der Lebenshilfe in der Schule gGmbH

(es handelt sich um die gekürzte Version eines längeren Beitrages zu diesem Thema)