Streiks und Betriebsratsgründung bei Gorillas – eine Geschichte der Arbeiter*innenbewegung

Die Gorillas Technologies GmbH ist ein so genanntes „Einhorn“ – ein Unternehmen, das noch vor Börsengang einen Marktwert von über einer Milliarde US-Dollar erreicht hat. Wie wird man ein Einhorn? Durch eine große Menge an Risikokapital. Und wohin fließt das in der Regel? In Unternehmen mit einem schnellen und ausbaubaren Wachstum. Gorillas wurde im März 2020 in Berlin gegründet, ist mittlerweile in 18 deutschen Städten und sechs Ländern aktiv und hat nach Schätzungen über 11.000 Beschäftigte. Schon neun Monate nach der Gründung wurde der Einhorn-Status erreicht – eine wirtschaftliche Märchengeschichte.

Ziemlich schnell wurde aber nicht mehr über das atemberaubende Wachstum des Unternehmens gesprochen, sondern über die schlechten Arbeitsbedingungen der Fahrer*innen, deren Aufgabe es ist, Lebensmittel in kürzester Zeit von dezentralen Lagerhäusern per Fahrrad zu den Kund*innen zu transportieren. Es waren die Beschäftigten selbst, die es geschafft haben, die öffentliche Wahrnehmung des Unternehmens zu verändern und durch ihre eigene Perspektive zu prägen. Gorillas ist nicht die fairy tale eines innovativen Start-Ups, das in Rekordzeit seinen Eignern und Investoren Milliarden-Renditen erwirtschaften konnte. Gorillas ist vielmehr die Geschichte einer sehr aktiven und intelligenten Belegschaft, die hervorragend organisiert ist und mit kreativen Ideen einer übergriffigen und überforderten Geschäftsführung die Grenzen aufgezeigt hat.

Die Geschichte ist noch nicht vorbei, die Auseinandersetzungen gehen weiter. Der nächste geplante Schritt ist die Gründung eines Betriebsrates bei Gorillas in Berlin. Wir haben im Juli mit einem Kollegen aus dem Gorillas Workers Collective (GWC) darüber gesprochen, wie es dazu kam. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt und wird hier in Auszügen und übersetzt wiedergegeben.

GWC: Ich möchte zu Beginn klarstellen, dass wir noch keinen Betriebsrat haben.

Bewegung mit Recht: Das weiß ich. Aber Ihr unternehmt Dinge, die für Betriebsräte von Interesse sind. Ich glaube, viele Betriebsräte kümmern sich noch zu viel um sich selbst, wenn sie sich mehr darum kümmern sollten, ihre Kolleg*innen zu organisieren.

GWC: Genau. Davor haben wir auch Angst. Wir möchten so etwas gerne verhindern. Aber das kommt natürlich auf den Ausgang der Wahl an.

Bewegung mit Recht: Wie hat es bei Euch angefangen?

GWC: Es geht schon eine längere Zeit, und es war nicht einfach. Im Februar waren die ersten Streiks. Es hatte in Berlin stark geschneit. Das war an einem Sonntag, und am Montag kamen wir alle zur Arbeit. Gorillas hatte keine Maßnahmen ergriffen. Die Fahrräder, die wir benutzen, sind nicht geeignet, um in hohem Schnee zu fahren. Damals war das Unternehmen noch nicht so groß, und viele kannten sich untereinander. Wir waren ca. 700 Kolleg*innen, mittlerweile sind wir allein in Berlin über 2.000.

Damals fuhren wir auch noch unterschiedliche Lagerhäuser an. Im März hat Gorillas das dann verändert, und jetzt hat jede*r nur noch ein Lagerhaus, zu dem wir fahren. Der offizielle Grund für die Änderung war Corona. Ich glaube aber, dass der eigentliche Grund darin liegt, die Kommunikation zwischen den einzelnen Kolleg*innen über die einzelnen Lagerhäuser hinaus zu erschweren. Deswegen waren die ersten Streiks nämlich auch so erfolgreich.

Die Leute sind morgens zur Schicht gekommen und haben darüber abgestimmt, ob sie arbeiten oder nicht. In zwei von sieben Lagerhäusern wurde dann entschieden, an diesem Tag nicht auszuliefern. Andere Fahrer*innen sind beim Ausliefern gestürzt, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren oder einfach gelaufen. Um 13 Uhr hat Gorillas dann Lieferungen für den Tag abgebrochen.

Am Tag danach hat Gorillas die Lieferzeiten eingeschränkt auf 10:00 bis 20:00 Uhr. Das war allerdings keine wirkliche Lösung. Wir hatten immer noch keine Ausrüstung, Winterkleidung, Hosen etc. An diesem Tag waren es dann schon drei Lagerhäuser, die sich entschieden, nicht auszuliefern. Es breitete sich aus, und Gorillas hat dann für eine Woche alle Lieferungen beendet und die Leute bei voller Bezahlung nach Hause geschickt.

Schon davor gab es Initiativen, zum Beispiel einen offenen Brief an die Geschäftsführung mit verschiedenen Punkten: das Gewicht der Rucksäcke, ungleiche Bezahlung, mangelnde Ausrüstung und andere Punkte. Damals war auch schon die Idee in der Luft, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Im Rahmen des Streiks im Februar hatten mehrere Leute sich getroffen, erst online und dann auch in Präsenz, und die Gruppe gegründet – Gorillas Workers Collective. Wir wussten anfangs noch nicht genau, was wir taten, aber die Idee war, die Leute zu organisieren und dazu zu bringen, in Gewerkschaften einzutreten und alle über ihre Rechte aufzuklären. Wir selbst kannten das deutsche Arbeitsrecht damals noch nicht sehr gut. Ein Vorteil war, dass einige von uns Deutsch sprechen konnten – das ist bei Gorillas selten. Damit hatten wir Zugang zu mehr Informationen.

Ich selbst wurde damals Mitglied der FAU und dann auch Mitglied der NGG. Wir bauten hier unsere Kontakte aus und wurden auch unterstützt. Seit Februar haben wir uns wöchentlich getroffen. Wir schreiben Hilfestellungen für unsere Kolleg*innen, zum Beispiel, wie eine Krankmeldung funktioniert oder wie man seinen Urlaub einreicht und anderes; auch Positionspapiere zur Bezahlung und dem Gewicht der Lieferungen etc.

Wir haben das dann auch öffentlich gemacht, z. B. mit einem Threema Channel. Wir publizieren unsere Informationen in verschiedenen Sprachen: Spanisch, Türkisch, Italienisch etc. Die häufigsten Sprachen bei Gorillas decken wir ab. Auch Freizeittreffen haben wir organisiert. Wir machen das alles in unserer Freizeit. Das ist ein Problem. Viele von uns arbeiten in Vollzeit und finden dann nicht so einfach die Zeit, um sich zu engagieren. Viele wollen sich auf die eine oder andere Art beteiligen, haben aber nicht genug Zeit dafür. Die Beteiligung fluktuiert sehr stark.

Der Punkt, an dem das Ganze dann eskalierte, war, als einer unserer Kollegen, der auch an der Gründung des GWC beteiligt war, gekündigt wurde. Die Kündigung kam nicht vom Manager vor Ort, sondern von außerhalb des Lagerhauses, irgendwo darüber. Der Kollege hatte vorher unter seinem echten Namen auf Social Media eine Unterstützung für die BR-Gründung in einem anderen Unternehmen (auch Kurierfahrer) gepostet. Das könnte der Grund gewesen sein. Er war noch in der Probezeit, also musste kein offizieller Grund angegeben werden.

Wir haben uns dann rechtlich beraten lassen. Der Anwalt, mit dem wir auch jetzt zusammenarbeiten, hat uns gesagt, dass die Kündigung nicht wirksam ist. Sie war nicht von der richtigen Person unterschrieben. Die Lösung, die wir gefunden haben, war, den Prozess zur Wahl eines Betriebsrates zu starten. Der Kollege hat also seine Kündigung angefochten und gleichzeitig als einer von dreien zur Wahl eines Betriebsrates eingeladen. Ab diesem Zeitpunkt konnte ihm dann nicht mehr erneut gekündigt werden.

Bewegung mit Recht: Der Grund für die Gründung des Betriebsrates war also, Euren Kollegen vor einer Kündigung zu schützen?

GWC: Es war auf jeden Fall eine strategische Entscheidung. Wir sind immer noch nicht ganz überzeugt, wenn es um den Betriebsrat geht. Der Betriebsrat hat einige Möglichkeiten, aber das auch nur eingeschränkt. Es gibt ja keine Sammelklagen. Wenn das Unternehmen zum Beispiel die Entgeltfortzahlung nicht rechtzeitig überweist, muss das jede*r für sich selbst klären. Deswegen frage ich mich auch, wie ein Betriebsrat unsere Probleme bei Gorillas wird lösen können.

Mittlerweile sind wir besser organisiert. Wir haben ein besseres Netzwerk und sind im Kontakt mit mehr Leuten. Wichtig an diesen Streiks ist nicht nur, dem Unternehmen zu zeigen, dass man bestimmte Arbeitsbedingungen nicht akzeptiert, sondern auch die Möglichkeit, mit vielen anderen Kolleg*innen in Kontakt zu kommen und sie auf Deine Seite zu kriegen. Sie kennen Dich dann und wissen, dass sie sich in Zukunft an Dich wenden können. Viele, die Probleme mit dem Unternehmen haben, kommen zu uns. Direkt zu unserem Kollektiv, um das Problem zu lösen. Wir haben eine Parallelstruktur aufgebaut und darüber einen gewissen Einfluss bekommen.

Gorillas befristet alle Arbeitsverhältnisse auf ein Jahr. Somit drohen die Verträge von Wahlvorstandsmitgliedern und potenziellen Betriebsratskandidat*innen auszulaufen. Gegen diese Behinderung der Betriebsratswahl durch „kalte Kündigungen“ setzen sich die Fahrer*innen aktuell vor den Berliner Arbeitsgerichten zur Wehr. Der Ausgang der Auseinandersetzung ist offen, die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt.