Geschlechterverteilung im Betriebsrat – ein Kampf um Sitze und Gerechtigkeit

2022 ist Wahljahr! Ab 1. März finden die nächsten regelmäßigen Betriebsratswahlen statt. Bis zum 31. Mai müssen alle Gremien neu gewählt werden. Nach den Bundestags- und Europawahlen sind die Betriebsratswahlen die wahrscheinlich größten demokratischen Wahlen in Deutschland.

Die Mitglieder des Betriebsrates werden in freier, direkter und geheimer Wahl von allen wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen des Betriebes gewählt. Selbstverständlich zählt jede Stimme gleich viel.

Bei näherem Hinsehen gibt es jedoch eine entscheidende Abweichung von diesen Wahlgrundsätzen. An einer Stelle greift das Betriebsverfassungsgesetz nämlich erheblich in die Gleichheit der Wahl ein: wenn es um die Zusammensetzung des Betriebsrates nach Geschlechtern geht.

Das D’Hondt-Verfahren bei Betriebsratswahlen – Mindestsitze für das Geschlecht in der Minderheit

§ 15 Abs. 2 BetrVG regelt, dass das Geschlecht, das in der Belegschaft in der Minderheit ist, mindestens seinem zahlenmäßigen Verhältnis entsprechend im Betriebsrat vertreten sein muss. Für das Minderheitengeschlecht gibt es also eine Quotenregelung, die einen Mindestsockel an Betriebsratssitzen festschreibt. Kommt diese Regel zur Anwendung, entscheidet bei der Verteilung der Sitze nicht mehr die höhere Stimmenanzahl, sondern das Geschlecht über die Zugehörigkeit zum Betriebsrat. Die Berechnung erfolgt nach dem sogenannten D’Hondt-Verfahren. Macht das Minderheitengeschlecht nur einen kleinen Teil der Belegschaft aus, kann es sein, dass es gar keine Mindestsitze erhält. Ist der Anteil jedoch groß, können dem Minderheitengeschlecht bis zu 40 Prozent der Betriebsratsmandate als Mindestsitze zugeschrieben werden. Manchmal sogar mehr.

Früher handelte es sich hierbei lediglich um eine Soll-Vorschrift. Seit der Reform 2001 ist sie jedoch zwingend vorgeschrieben. Der Gesetzesbegründung von damals ist zu entnehmen, dass sichergestellt werden soll, „dass der Zugang von Frauen zum Betriebsrat, in dem sie in aller Regel unterrepräsentiert sind, nicht nur erleichtert, sondern auch tatsächlich durchgesetzt wird.“[1]

Anteil weiblicher BR-Mitglieder im Laufe der Zeit

1975 waren gerade mal 16 Prozent der BR-Mitglieder Frauen. 1994 war diese Zahl zwar auf 24 Prozent gestiegen, doch Frauen machten zu diesem Zeitpunkt schon 43 Prozent der Beschäftigten in den Betrieben aus. Zum Zeitpunkt der Reform war der Anteil von weiblichen BR-Mitgliedern sogar leicht auf 23 Prozent gefallen. In den kommenden Jahren stieg er aber wieder an: 2006 auf 24 Prozent, 2010 auf fast 26 Prozent[2]. Mittlerweile sind 31 Prozent aller BR-Mitglieder weiblich[3], allerdings sind inzwischen auch 47 Prozent aller Erwerbstätigen Frauen. Das heißt also: Trotz der steten Steigerung sind Frauen in BR-Gremien weiterhin deutlich unterrepräsentiert.

Vorschrift mit Haken: Mindestsitze nach Geschlechtern können Frauen auch verdrängen

Die Vorschrift des § 15 Abs. 2 BetrVG hat augenscheinlich dazu beigetragen, Frauen in männlich dominierten Belegschaften den Weg in den Betriebsrat zu erleichtern. Was aber ist mit Betrieben und Branchen, in denen Frauen die Mehrheit in der Belegschaft ausmachen? Dies betrifft wichtige Sektoren, wie Gesundheits-, Pflege und Erziehungsberufe, Verwaltungen, Reinigung, Hotel- und Gaststättengewerbe oder auch den Einzelhandel. In Betrieben dieser Branchen bilden Männer das Minderheitengeschlecht. Folglich sind es dann auch Männer, denen die Mindestsitze im Gremium zustehen. Die Betriebsratswahl hat dann eine Männerquote!

In der Praxis bedeutet dies, dass in den Betriebsrat gewählte Frauen von „Quoten-Männern“ mit weniger Stimmen verdrängt werden können. In vielen Branchen wie dem Einzelhandel, der Pflege und den Sozial- und Erziehungsdiensten ist die Mitbestimmungskultur weiblich geprägt: Es sind Frauen, die die erstmalige Gründung von Betriebsräten initiiert haben und sich mehrheitlich im Gremium engagieren. Jede Wahl aufs Neue müssen kämpferische Kolleginnen ihren Platz im BR nicht nur gegen den Druck des Arbeitgebers, sondern auch gegen die Quote verteidigen. Ist die eigene Vorschlagsliste nur mit Frauen besetzt, könnte es passieren, dass auf der arbeitgebernahen Gegenliste ein einzelner Mann mit Hilfe der Quote einer Frau den Platz im Gremium wegschnappt. Um bei der Feststellung des Wahlergebnisses nicht das Nachsehen zu haben, müssen dann schon bei der Listenaufstellung Männer bevorzugt berücksichtigt werden – eine für die Kolleginnen irritierende und nicht selten empörende Situation.

Was wäre gerecht und auf der Höhe der Zeit?

Nun könnte man einwenden, dass eine neutrale Gleichstellungsquote doch die beste Methode sei: Egal ob Frauen oder Männer, beide Geschlechter sollten möglichst anteilig im Gremium vertreten sein. Lediglich Frauen von einer Quote profitieren zu lassen, sei nicht gerecht. Eine Quote ist aber nicht die Antwort auf schlichte Unterrepräsentanz, sondern ein Mittel im Kampf gegen strukturelle Benachteiligung. Aus den oben genannten Zahlen geht klar hervor: In der Vergangenheit und auch aktuell ist es für weibliche Beschäftige wesentlich schwerer als für männliche, Betriebsratsmitglied zu werden. Die Gründe dafür sind komplex, aber sie sind real.

Wenn das Betriebsverfassungsrecht mit § 15 Abs. 2 in Wahlgrundsätze eingreift und ordentlich gewählten Kandidat*innen aufgrund ihres Geschlechtes zugunsten anderer Kandidat*innen den Sitz im Betriebsrat verwehrt, ist dies zum Vorteil von Frauen gerechtfertigt, weil damit konkret bestehende Nachteile ausgeglichen werden. Im Falle von Männern ist dies jedoch nicht gerechtfertigt. Auch in weiblich dominierten Branchen können Männer problemlos Mitglied des Betriebsrates werden. Sie sind in den dortigen Gremien überrepräsentiert und brauchen keine Quote.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte bereits 2006 über diese Norm entscheiden müssen[4] und sah damals keine verfassungsrechtlichen Probleme. Allerdings ging es in dem Verfahren um einen Betrieb, in dem Frauen das Minderheitengeschlecht stellten. Eine Entscheidung des BAG oder des Bundesverfassungsgerichts zur Männerquote bei Betriebsratswahlen fehlt bisher. Auch in der Kommentarliteratur spielt dieses Thema erstaunlicherweise kaum eine Rolle.

Umso größer ist der Ärger auf der betrieblichen Ebene. Diese Regel muss dringend verändert werden. Das Betriebsverfassungsgesetz muss auf der Höhe der Zeit agieren, sonst büßt es und mit ihm die ganze Institution Betriebsrat an Glaubwürdigkeit ein. Leider hat die Große Koalition weder beim Betriebsrätemodernisierungsgesetz noch bei der Reform der Wahlordnung im letzten Jahr eine entsprechende Neuregelung vorgenommen.

Das dritte Geschlecht wird in der Wahlordnung noch immer übergangen – Was tun?

Untätig war die letzte Regierung auch bei der Frage des so genannten dritten Geschlechts. Das Bundesverfassungsgesetz hat bereits 2017 die rechtliche Existenz nichtbinärer Geschlechtsidentitäten anerkannt. Das Betriebsverfassungsgesetz und die Wahlordnung tragen dem bislang keine Rechnung. Wie sollen Betriebsräte und vor allem Wahlvorstände nun damit umgehen? Das ist weiterhin ungeklärt. Es ist aber keine Lappalie oder nur Formsache; es geht hier um den Schutz von Persönlichkeitsrechten. Ob die Wählerliste nun nach Männern und Frauen oder doch nach drei Geschlechtern unterteilt ist, mag für viele irrelevant erscheinen. Die eigene geschlechtliche Identität missachtet zu sehen oder misgendert zu werden, kann aber schmerzhaft sein.

Sollte es Kolleg*innen geben, die sich im Betrieb als inter/divers identifizieren, stehen dem Wahlvorstand unterschiedliche Möglichkeiten offen, darauf bewusst zu reagieren:

Der Wahlvorstand kann das dritte Geschlecht bei der Berechnung des Minderheitengeschlechts ignorieren.[5] In diesem Falle würde er die Auffassung vertreten, dass Kolleg*innen mit dieser Geschlechtsidentität zwar vor Diskriminierung geschützt werden müssen, ihre Vertretung im Betriebsrat aber nicht aktiv gefördert werden muss.

Möglich wäre es auch, von jeweils zwei Minderheitengeschlechtern auszugehen und das D’Hondt-Verfahren mit allen drei Geschlechtern durchzuführen. In der Praxis würde sich dadurch wahrscheinlich nichts ändern, aber es wäre ein klares Zeichen der Berücksichtigung des dritten Geschlechts – und damit eben keine reine Formsache.

Man hört auch die Idee, die beiden Minderheitengeschlechter zusammenzufassen. Das wiederum widerspricht aber gerade dem Konzept eines dritten Geschlechts.

Eine weitere Möglichkeit: Der Wahlvorstand könnte § 15 Abs. 2 BetrVG nach dem Wortlaut lesen und das dritte Geschlecht als eigenständiges, im Betrieb vertretenes Geschlecht werten. Es wäre dann wohl immer das Minderheitengeschlecht. Da in der Arbeitswelt nur wenige Beschäftigte offen mit einer nichtbinären Geschlechtsidentität leben, würden wahrscheinlich fast nie Minderheitenplätze auf das dritte Geschlecht entfallen. Der – möglicherweise gewollte – Nebeneffekte wäre dann, dass weder Frauen noch Männer von Minderheitenplätzen profitieren würden. Über die Plätze im Betriebsrat würde dann einzig das Wahlergebnis entscheiden. Das würde die Quotenregelung des Betriebsverfassungsgesetzes gänzlich aushebeln. Der Wahlvorstand wird wissen, wann diese Verfahrensweise angebracht sein könnte und wann nicht.

Jeder Schritt zählt

Verlässliche Gerechtigkeit bei der geschlechtsbezogenen Sitzverteilung im Betriebsrat bedarf einer gesetzlichen Neuregelung. Solange diese fehlt, können Wahlvorstände durch bewusste Entscheidungen bei der Vorbereitung und Durchführung der Betriebsratswahl ihren Beitrag dazu leisten, die strukturelle Benachteiligung von Frauen und nichtbinären Menschen zu bekämpfen. Auch wenn die Schritte klein sind – sie sind wichtig auf dem Weg zu einer diskriminierungsfreien, geschlechtergerechten und vielfältigen Gesellschaft.


[1] BT-Drucksache 14/5741, Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes

(BetrVerf-Reformgesetz), S. 37.

[2] Vgl. Trendreport Betriebsratswahlen 2010.

[3] Vgl. Trendreport Betriebsratswahlen 2018. Mitbestimmungsreport Nr. 60. Juni 2020.

[4] BAG Beschluss vom 16.03.2005 – 7 ABR 40/04.

[5] So empfiehlt es Däubler 2020, BetrVG § 15 Rn. 11.