Trotz aller Unterschiede: Gemeinsame Interessen der gesamten Belegschaft erkennen und Spaltungen entgegenwirken

Maschinenfabrik in Chemnitz 1868

Bei Karl Marx liest es sich noch ganz einfach: „Die Großindustrie bringt eine Menge einander unbekannter Leute an einem Ort zusammen. Die Konkurrenz spaltet sie in ihren Interessen; aber die Aufrechterhaltung des Lohnes, dieses gemeinsame Interesse gegenüber ihrem Meister, vereinigt sie in einem gemeinsamen Gedanken des Widerstandes – Koalition.“[1] Erst  im Betrieb lernen sich die Arbeiter:innen kennen und entdecken die gemeinsamen Interessen. Es entsteht eine Koalition, die es ohne die kapitalistische Betriebsordnung nie gegeben hätte. „Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen.[2] Der Kapitalismus schafft damit also die Voraussetzung für den Zusammenschluss der Arbeiter:innen.

Aber wie sieht dies in modernen Betriebsstrukturen aus? Lernen sich die Beschäftigten dort noch wirklich kennen und tauschen sich über ihre gemeinsame Interessenlage aus? Tatsächlich erscheint die Klasse der arbeitenden Menschen heute so differenziert und gespalten wie nie zuvor.

Spaltung durch unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse

Im vergangenen Jahr wurden einer größeren Öffentlichkeit eklatante Unterschiede in Beschäftigungsverhältnissen am Beispiel der Fleischindustrie bekannt. Hier arbeiten festangestellte Kolleg:innen mit Leitungs- und Organisationsaufgaben neben Leiharbeits- und Werkvertragsbeschäftigten unterschiedlicher Entleiher und Subunternehmen zu teilweise katastrophalen Bedingungen. Letztere sind fast ausschließlich Wanderarbeiter:innen ohne deutschen Pass. Das Arbeitsschutzkontrollgesetz soll die Leiharbeits- und Werkvertragsbeschäftigung beenden – allerdings nur in den Kernbereichen. Beim Treiben, bei Reinigungsarbeiten und anderen Hilfsätigkeiten wird sich weiterhin Werkvertragsbeschäftigung unter inakzetablen Bedingungen finden lassen.

Auch in anderen Branchen zeigen sich Ungleichheiten bezüglich der Beschäftigungsverhältnisse, zum Beispiel an staatlichen Schulen in Berlin: Hier arbeiten verbeamtete Lehrer:innen neben angestellten Lehrer:innen und Referendar:innen. Über ein festes Budget können Schulen außerdem externe Aushilfslehrer:innen anstellen. Schon lange arbeiten Schulen überdies mit privaten Agenturen zusammen, die Lernförderlehrer:innen, Schulassistent:innen sowie Lehrkräfte für regulären Unterricht an die Schulen entsenden. Die schulische Hierarchie dieser verschiedenen Gruppen lässt sich ziemlich genau an den unterschiedlichen Entgelten nach unten durchdeklinieren.

Die Beispiele ließen sich sicherlich für jede Branche beliebig fortsetzen. Auch über die Unterschiede zwischen Teilzeit und Vollzeit, befristeten und unbefristeten Arbeitsverträgen sowie Praktikant:innen, 1-Euro-Jobber:innen und Solo-Selbstständigen im Betrieb müsste gesprochen werden. Schon Marx beschrieb solche Differenzierungsprozesse. Ihm war klar, dass „die vom Kapital eingeführte und stets vergrößerte Teilung der Arbeit die Arbeiter [zwingt] sich […] Konkurrenz zu machen“.[3] Eine nach Entgelt und Beschäftigtenstatus diversifizierte Belegschaft zu haben, ist im Interesse der Arbeitgeber:innen. Denn sie erschwert den Zusammenschluss der Beschäftigten untereinander und erhöht die Flexibiliät der Unternehmen.

Weitere Gründe für Belegschaftsspaltungen

Nicht nur das reine Beschäftigungsverhältnis spaltet die Belegschaften:

  • Frauen verdienen im Vergleich zu Männern immer noch 18 Prozent weniger, und  in Bezug auf Arbeitszeit, Aufstiegschancen und Betriebskultur finden sie meist schlechtere Bedingungen vor als ihre männlichen Kollegen.
  • Menschen mit transnationalen Backgrounds oder Nichtmuttersprachler:innen machen Ausgrenzungserfahrungen und haben einen erschwerten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt.
  • In manchen Branchen fühlen sich Beschäftigte in ihrem Betrieb aufgrund der bloßen Tatsache ausgeschlossen, dass sie über wenige oder keine Englischkenntnisse verfügen.
  • Neben Geschlecht, Herkunft und Sprache spielt auch das Alter eine wichtige Rolle.
  • Nicht zuletzt wirkt sich die absolvierte Ausbildung auf die Höhe des individuellen Verdienstes aus.

In der Corona-Pandemie müssen viele Beschäftigte darüber hinaus noch eine andere, ganz konkrete Spaltungserfahrung machen: Die Arbeit im Homeoffice führt dazu, dass sich viele Kolleg:innen gar nicht mehr begegnen. Der Betrieb als sozialer Raum verschwindet mitunter vollständig. Übrig bleibt nur der formale Arbeitszusammenhang.

Eine zentrale Frage für jeden Betriebsrat

Wenn all das letztlich nur dem*der Arbeitgeber:in dient, müsste es dann nicht die zentrale Aufgabe des Betriebsrates als Interessenvertretung der gesamten Belegschaft sein, die Einheit und damit – in der marxschen Sprache – die Koalition der Kolleg:innen zu schützen und zu fördern? In der Liste der allgemeinen Aufgaben des Betriebsrates in § 80 BetrVG sucht man eine solche Aufgabe leider vergebens. Der Betriebsrat soll aber die tatsächliche  Gleichstellung der Geschlechter fördern (§ 80 Abs. 1 Nr. 2a), die Eingliederung schwerbehinderter Menschen (§ 80 Abs. 1 Nr. 4), die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer:innen (§ 80 Abs. 1 Nr. 6) sowie die Integration ausländischer Arbeitnehmer:innen (§ 80 Abs. 1 Nr. 7). In § 75 wird ihm außerdem aufgetragen, dass jede Benachteiligung unterbleibt und die freie Entfaltung der Persönlichkeit der Arbeitnehmer:innen gefördert wird.

Will der Betriebsrat sich aktiv um die Einheit der Belegschaft bemühen, kann er sich also auf einige Stellen im BetrVG stützen. Nirgends wird er dagegen die Vorgabe finden, sich nur um die – wie auch immer geartete – Kernbelegschaft kümmern zu sollen. Die Möglichkeiten, sich aktiv um die Interessen von Leiharbeits- und Werkvertragsbeschäftigten im Betrieb zu bemühen, haben wir bereits in einer vergangenen Folge diskutiert.

Konkrete Maßnahmen für die Einheit der Belegschaft

Am Anfang sollte eine Analyse des eigenen Betriebes stehen: Aus welchen verschiedenen Gruppen besteht Eure Belegschaft? Welche Bedingungen spalten sie, und welche bringen sie zusammen? Dies kann von Betrieb zu Betrieb sehr unterschiedlich sein. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Mitglieder des Betriebsrates nicht alle Spaltungslinien kennen. Nicht alle Gruppen sind immer auch selbst im Gremium vertreten. Über die Möglichkeit aus § 80 Abs. 2 Satz 4 könnt Ihr mit einzelnen Vertreter:innen der verschiedenen Gruppen sprechen und Euch informieren lassen.

Oft übersehen wird die Vorgabe in § 15 Abs. 1 BetrVG, wonach der Betriebsrat sich möglichst aus Arbeitnehmer:innen der einzelnen Organisationsbereiche und der verschiedenen Beschäftigungsarten zusammensetzen soll. Wenn das bei Euch nicht der Fall sein sollte, könnt Ihr über die Heranziehung betrieblicher Sachverständiger und Nicht-BR-Mitglieder im Wirtschaftssausschuss weitere Kolleg:innen an der BR-Arbeit teilnehmen lassen. Partizipativ gestaltete Betriebsversammlungen, kollektive Sprechstunden und Betriebsbegehungen sind weitere Möglichkeiten, um alle Kolleg:innen zur Mitarbeit einzuladen und direkt von ihnen selbst zu hören.

Aktuell müssen sich viele Betriebsräte am dringlichsten um die Spaltung durch das Homeoffice kümmern. Die Methoden dazu müssen meist erst noch entwickelt und erprobt werden. Der Betriebsrat sollte sich nicht von vermeintlich fehlenden Mitbestimmungsrechten abschrecken lassen. Um neuen Problemen zu begegnen, müssen unweigerlich neue Lösungen gefunden werden. Virtuelle Betriebs- und Abteilungsversammlungen sind nur eine Möglichkeit, der Vereinzelung entgegenzuwirken. Sobald es epidemiologisch wieder möglich ist, könnte ein Rückkehrrecht in den Betrieb bzw. lediglich anteilige Arbeit im Homeoffice eingefordert werden. Über Betriebsvereinbarungen lassen sich Präsenzmeetings zu festen Zeiten oder Themen festschreiben. Auch betriebliche Veranstaltungen und soziale Events während der Arbeitszeit können geregelt werden – alles, was dazu beiträgt, den Betrieb als sozialen Raum zu erhalten oder wiederzubeleben.  

Neben der aktiven Partizipation der Verterter:innen verschiedener Gruppen ist es natürlich genauso wichtig, dass sich die Interessen aller Gruppen auch in Eurer konkreten Mitbestimmungsarbeit wiederfinden. Hier sind Abwägungsfragen notwendig. Das ist kein leichtes Geschäft, aber für leichte Geschäfte ist man ja auch nicht Betriebsrat geworden. Glaubt man Friedrich Engels, bleibt dies die wichtigste Aufgabe der Arbeiter:innenbewegung, denn „die Herrschaft der Bourgeosie beruht nur auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich. […] Der Arbeiter kann die Bourgeoisie und mit ihr die ganze bestehende Einrichtung der Gesellschaft an keinem wunderen Fleck angreifen als an diesem.“[4]


[1] MEW 4, Das Elend der Philosophie S. 180

[2] MEW 4, Das Elend der Philosophie S. 181

[3] MEW 6, Lohnarbeit und Kapital S. 420

[4] MEW 2, Die Lage der arbeitenden Klasse in England S. 436