Klimaschutz im Betrieb

Workshop mit Prof. Wolfgang Däubler und RA Thomas Berger

29. Februar 2024, 08:30 bis 13:30 Uhr Tagungszentrum Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin



Der Klimawandel stellt die zentrale Herausforderung unserer Zeit dar, die alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft. In der Wirtschaft sollten nicht nur Unternehmensleitungen, sondern auch Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen aktiv an der Entwicklung von Klimaschutzmaßnahmen beteiligt werden. Doch wie können Betriebsräte erfolgreich Gehör beim Thema Klimaschutz finden?


In diesem Workshop werden wir die bereits bestehenden Beteiligungsrechte beim betrieblichen Umweltschutz analysieren. Dabei eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten für Betriebsräte, sich im Interesse der Umwelt und der Gesundheit der Beschäftigten einzubringen.
Im zweiten Teil des Workshops werden wir gemeinsam mit Professor Wolfgang Däubler und Rechtsanwalt Thomas Berger den aktuellen Stand der Einführung eines echten Mitbestimmungsrechts bei Maßnahmen des Klimaschutzes vorstellen und dieses Mitbestimmungsrecht gemeinsam diskutieren.

Der Workshop richtet sich an Betriebs- und Personlräte, Gewerkschafter*innen, betrieblich Aktive und alle Kolleg*innen mit Interesse und Engagement am Thema Klima- und Umweltschutz. Bei Interesse reicht eine formlose Anmeldung per E-Mail an info@rechtundarbeit.net. Die Teilnahme ist kostenlos.

Betriebs- und Personalräte haben die Möglichkeit im Rahmen des § 37 Abs. 6 BetrVG teilzunehmen. Wie bei anderen Schulungsveranstaltungen auch, ist der Arbeitgeber in diesem Falle verpflichtet die Workshopkosten sowie Eure Reise- und Übernachtungskosten zu tragen. Sollte es Probleme mit der Kostenübernahme geben, könnt Ihr auch im Rahmen von § 37 Abs. 7 BetrVG teilnehmen. In diesem Fall entstehen für Euren Arbeitgeber keine Kosten, er muss Euch aber dennoch für die Teilnahme von Eurer Arbeit freistellen. Beide Anmeldeformulare könnt Ihr hier herunterladen. Meldet Euch gerne bei uns, wenn es Fragen dazu gibt.
 

    




 

    




 

    




 

    




 
 


 
 


 
 


 
 

Diversity & Inclusion: Wie der Betriebsrat unsere Demokratie bereichern kann

Verfasserin: Chantal Chisley

Wir leben in einer Zeit, in der ungleiche Machtverhältnisse, Privilegien sowie bestehende diskriminierende Strukturen kritisch hinterfragt werden. Menschen, die sich aufgrund dieser ungleichen Verhältnisse nicht wahrgenommen und gehört fühlen, rücken zunehmend in den Fokus und kämpfen für ihre Rechte. Obwohl wir auf gesellschaftlicher Ebene über die verschiedenen Dimensionen von Diskriminierung intensiv diskutieren, erfahren Menschen vor allem auf institutioneller Ebene, wie im Bereich des Arbeitsmarkts, nach wie vor Diskriminierung. Laut der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gehen aus dem Jahresbericht 2022 insgesamt 8.827 Beratungsanfragen zu Diskriminierung hervor; dabei erlebten 27% der Ratsuchenden Diskriminierung am Arbeitsplatz.

Betriebsräte spielen eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, Diversity & Inclusion am Arbeitsplatz aktiv zu fördern. Als Betriebsrätin eines großen Konzerns bin ich fest davon überzeugt, dass der Betriebsrat in erheblichem Maße zur Schaffung einer vielfältigen und integrativen Unternehmenskultur beitragen kann.

Inhalt und Ziele von Diversity & Inclusion in der Arbeitswelt

Diversity & Inclusion umfasst in der Arbeitswelt die Gleichberechtigung und Chancengleichheit aller Menschen, indem die verschiedenen Diversitätsmerkmale berücksichtigt werden. Das bedeutet, dass alle Menschen – unabhängig von ihrer ethnischen, nationalen und sozialen Herkunft, ihrem Geschlecht und ihrer geschlechtlichen Identität, ihrer körperlichen Beeinträchtigung, Religion und Weltanschauung, ihrer sexuellen Orientierung und ihres Alters – gleichermaßen respektiert und integriert werden sollten. Ziel ist es, eine vielfältige und inklusive betriebliche Gemeinschaft zu implementieren, in der jede*r Einzelne sein*ihr volles Potenzial entfalten kann. Daher ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Konzept sowie ein diskriminierungskritisches Bewusstsein innerhalb der Betriebsräte von essenzieller Bedeutung, um Großes zu bewirken.

Als Betriebsrat tragen wir die Verantwortung, die Interessen der Belegschaft zu vertreten. Der Tätigkeitsbereich ist breit gefächert und bringt verschiedene Aspekte mit sich. Dazu gehören die Überwachung der Einhaltung von Arbeitsrecht und geltenden Tarifverträgen sowie die Mitbestimmung bei wirtschaftlichen Angelegenheiten. Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt liegt auf Verhandlungen mit den Arbeitgeber*innen. Häufig werden sowohl die Funktion als auch der Aufgabenbereich eines Betriebsrats unterschätzt und auf die genannten Tätigkeiten beschränkt. Dabei wird nicht deutlich, welch bedeutende politische Wirkung ein Betriebsrat gesamtgesellschaftlich tatsächlich hat. Ich habe das Gefühl, dass sich einige Betriebsräte der Tragweite von Betriebsratsarbeit nicht bewusst sind: Wir können gesellschaftliche Transformationsprozesse „von unten nach oben“ vorantreiben. Obwohl wir innerhalb von Unternehmen und Betrieben agieren, haben wir die Macht, weit darüber hinaus etwas zu bewirken: die Demokratie, in der wir leben, zu stärken und zu schützen. Das ist ein essenzieller Bestandteil unserer Arbeit.

Der Betriebsrat als Sprachrohr für alle

Im deutschen Arbeitsrecht sind die Bestimmungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) in den Arbeitsgesetzen (ArbG) verankert. Das AGG enthält verschiedene Abschnitte, die den Schutz vor Diskriminierung in verschiedenen Bereichen, einschließlich des Arbeitsplatzes, regeln. Obwohl das AGG eine wesentliche Rolle im Arbeitsrecht und somit auch für den Betriebsrat spielt, wird dem Thema Diversity & Inclusion nicht die angemessene Aufmerksamkeit zuteil, die es benötigt. Dies zeigt sich nach meinen Erfahrungen beispielsweise in der Kommunikation innerhalb und außerhalb der Betriebsräte. Einige Betriebsräte setzten sich innerhalb ihres Gremiums wenig bis gar nicht mit den wichtigen Themen Diversität und Antidiskriminierung auseinander. Auch außerhalb des Gremiums und im Austausch mit anderen Betriebsräten des Unternehmens finden kaum Debatten und Dialoge zu diesen Themen statt. Meine Erfahrung zeigt, dass Themen wie Diversität, Teilhabe und insbesondere Antidiskriminierung erst dann aktiv angegangen werden, wenn es zu rassistischen Vorfällen im Unternehmen kommt. Erst dann findet häufig eine Auseinandersetzung statt. Es gibt allerdings auch Ausnahmen: In einigen Unternehmen haben diskriminierende Vorfälle dazu geführt, dass Betriebsräte und der Gesamtbetriebsrat umfassende Betriebsvereinbarungen zu Antidiskriminierung, Antirassismus und Antimobbing verhandelt haben, um verbindliche Standards festzulegen.

Aus meiner Sicht lassen sich die Ursachen für dieses Phänomen auf zwei Faktoren zurückführen: Erstens besteht ein Mangel an Zugang zu Informationen und Ressourcen im Bereich der Diversität und Teilhabe. Zweitens spielt die Zusammensetzung der Betriebsräte eine entscheidende Rolle.

Mangelnder Zugang zu Informationen und Ressourcen

Hierbei ist festzustellen, dass es nur sehr begrenzte oder sogar keine Schulungs- und Weiterbildungsangebote für Betriebsräte gibt, die sich mit dem Thema Vielfalt und Inklusion auseinandersetzen. Gemäß § 37 Abs. 6 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) hat der Betriebsrat Anspruch auf entsprechende Schulungen zum Thema Arbeitsrecht, um grundlegende Gesetze und Vorschriften effektiv in der Praxis anwenden und umsetzen zu können. Es ist jedoch ebenso von großer Bedeutung, dass der Betriebsrat eine vielfältige und inklusive Arbeitsumgebung nachhaltig fördert. Daher ist es nicht nur wünschenswert, sondern auch sinnvoll, Seminar- und Schulungsangebote zu diesem relevanten Thema zu entwickeln, um den Zugang zu erleichtern. Diese bieten Betriebsräten die Möglichkeit, sich in diesem Bereich weiterzubilden, ihre Sensibilität zu erhöhen, die erforderlichen Kenntnisse aufzubauen und vor allem gesellschaftsrelevante Themen innerhalb des Unternehmens aktiv anzugehen.

Entscheidender Faktor: Die Zusammensetzung des Betriebsrats

Die Zusammensetzung der Betriebsräte entscheidet zum einen über die Repräsentanz von Diversität im Allgemeinen; zum anderen kann sie einen erheblichen Einfluss auf die Bewertung der Wichtigkeit und Aufnahme des Themenfeldes Diversity & Inclusion im jeweiligen Unternehmen haben. Wenn ein Unternehmen sich dem Thema ernsthaft widmen möchte, sollte es eine diverse Aufstellung innerhalb des Betriebsrates anstreben, um im nächsten Schritt die Themen angehen und nachhaltige Veränderungen erzielen zu können. Als Betriebsrätin und Person of Color habe ich selbst die Erfahrung gemacht, dass gewisse Themen durch das Einbringen meiner Perspektive erst auf die Agenda gekommen sind und auch diverser betrachtet werden konnten. Da wir als Menschen unterschiedliche Erfahrungen hinsichtlich unserer gesellschaftlichen und beruflichen Stellung machen, benötigen wir die Perspektiven von Betroffenen und ihre Repräsentanz, um ernsthaft Veränderungen voranzutreiben und es nicht bei leeren Worthülsen zu belassen. Ehrliche Repräsentanz nach innen und nicht nur für die äußere Darstellung eines Unternehmens bedeutet auch, sich intensiv mit der Unternehmenskultur auseinanderzusetzen und Reflexionen über das Kollegium anzustellen. Inwieweit die Zusammensetzung der Betriebsräte in Deutschland hinsichtlich verschiedener Diversitätsmerkmale variiert, ist tatsächlich schwer zu beurteilen, da hierfür umfassende Daten und explizite Analysen nötig sind. Jedoch ist es wichtig anzumerken, dass eine optimale Gestaltung von Vielfalt in Unternehmen erreicht wird, wenn Betriebsräte eine vielfältige Zusammensetzung aufweisen. Ohne eine vielfältige Repräsentation, die verschiedene Perspektiven aufzeigt, ist eine nachhaltige Entwicklung in diese Richtung nicht möglich. Die Zusammensetzung der Betriebsräte wird natürlich von verschiedenen Faktoren beeinflusst, wie beispielsweise der Unternehmensgröße, wodurch nicht immer alle Diversitätsmerkmale repräsentiert werden und die Zusammensetzung somit der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft entsprechen kann. Daher ist eine Auseinandersetzung mit diesem Thema und die Einbeziehung von Mitarbeiter*innen in bestimmte Angelegenheiten von essenzieller Bedeutung.

Vielfalt: Die Kraft des Betriebsrates

Der Betriebsrat kann der Unternehmenskultur durch die Einführung des Konzepts Diversity & Inclusion eine Vielzahl von Vorteilen bringen. Durch die Schaffung einer vielfältigen Arbeitsumgebung, in der verschiedene Diversitätsmerkmale vertreten sind, wird der Arbeitsplatz zu einem „Safe Space“ für die Belegschaft. Gleichzeitig kann die integrative Vielfalt am Arbeitsplatz zu einer Sensibilisierung untereinander führen, indem vielseitige Perspektiven sichtbar gemacht werden und in die Innovationen und Kreativität des Unternehmens einfließen können. Dadurch wird die Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen gesteigert, was wiederum zu einer Verringerung der Personalfluktuation führt. Ein weiterer essenzieller Faktor ist die Gleichberechtigung und Chancengleichheit am Arbeitsplatz. Dies stellt sicher, dass sich alle Mitarbeitenden gleich respektiert und wahrgenommen fühlen und gleiche Möglichkeiten zur Weiterentwicklung haben.

Betriebsräte fungieren durch ihre Mitbestimmung als Sprachrohr für alle Mitarbeiter*innen eines Unternehmens, Betriebes, einer Gewerkschaft oder Organisation. Es liegt in unserer Hand, die Bedürfnisse in Bezug auf Diversity & Inclusion wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Deshalb benötigen wir als Betriebsrat effiziente Strategien und Maßnahmen zur Umsetzung integrativer Vielfalt. Für die Gewährleistung von Diversity & Inclusion bildet ein Diversitykonzept das grundlegende Fundament. Ein Diversitätskonzept umfasst alle Ansätze, Richtlinien, Strategien und Maßnahmen, die Vielfalt und Teilhabe in einem Unternehmen gezielt fördern. Die Charta der Vielfalt[1]dient beispielsweise als Unterstützung für betriebliche Interessenvertretung im Verständnis eines Diversitykonzepts. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Betriebsvereinbarungen zu nutzen, um ein Diversitykonzept innerhalb des Unternehmens zu etablieren und zu regeln.

Ein entscheidender Faktor für die Förderung einer vielfältigen Arbeitsumgebung durch die Mitbestimmung des Betriebsrats liegt in der Personalbeschaffung. Gemäß § 99 BetrVG hat der Betriebsrat ein umfassendes Mitbestimmungsrecht bei personellen Einzelmaßnahmen. Demzufolge hat ein Betriebsrat beispielsweise bei Neueinstellungen ein Mitspracherecht und muss aktiv in den Entscheidungsprozess eingebunden werden. Beispielsweise kann bei der Neueinstellung besonderer Wert darauf gelegt werden, Mitarbeiter*innen mit Kindern zu berücksichtigen und bei der Personalplanung die Arbeitszeiten entsprechend anzupassen. Zudem sollten auch Personen mit einem nicht akademischen Hintergrund die Möglichkeit haben, bestimmte Stellen zu besetzen. Das Beteiligungsrecht bietet dem Betriebsrat den Vorteil, hinsichtlich Diversity & Inclusion bei der Personalbeschaffung die Grundsätze der Chancengleichheit und Diskriminierungsfreiheit einzuhalten. Des Weiteren können auch Stellenausschreibungen im Sinne der Vielfalt genutzt werden. Arbeitgeber*innen sind gesetzlich dazu verpflichtet, Stellenausschreibungen gemäß § 11 AGG frei von jeglicher Diskriminierung zu gestalten. Das bedeutet, dass sie gezielt Stellenausschreibungen erstellen sollten, die die Vielfalt im Personalbereich fördern und unterrepräsentierte gesellschaftliche Gruppen ansprechen.

Mit Sensibilisierung fängt alles an

Welche weiteren Maßnahmen können Betriebsräte ergreifen, um sowohl die Belegschaft als auch Führungskräfte für die Themen Vielfalt, Teilhabe und Antidiskriminierung zu sensibilisieren? Ein äußerst effektives und interessantes Tool ist die Durchführung von Betriebsversammlungen gemäß § 43 BetrVG, die mindestens viermal im Jahr stattfinden müssen. Auf diesen Versammlungen können gesellschaftlich relevante Themen wie Diversität und Antidiskriminierung behandelt werden. Dabei können die Mitarbeiter*innen durch Begriffsdefinitionen wie beispielsweise „Was bedeutet eigentlich (Anti-)Rassismus“ oder „Was bedeutet ‚Catcalling‘ am Arbeitsplatz?“ sowie durch Theorien, Dialoge und Fallbeispiele aufgeklärt werden. Für einen intensiven und gegebenenfalls interkulturellen Austausch eignen sich insbesondere Gruppenarbeiten. In mehreren Kleingruppen werden gemeinsam verschiedene Fragen diskutiert, wie beispielweise: „Warum ist Sprache essenziell und ab welchem Zeitpunkt kann Sprache (ein bestimmter Begriff) als verletzend angesehen werden?“. Es ist ratsam, dass Betriebsratsmitglieder bereits über gewisse Vorkenntnisse zu diesen Themenfeld verfügen und sich im Vorfeld intensiv damit auseinandersetzen. Idealerweise können auch professionelle Referent*innen zu diesem Thema eingeladen werden, um die Belegschaft unter anderem über spannende wissenschaftliche Erkenntnisse zu informieren.

Die Sensibilisierung für diese bedeutsame Thematik ist enorm relevant. Ein gut aufgeklärtes Team bietet auch für zukünftige Betriebsratswahlen, die alle 4 Jahre stattfinden, klare Vorteile. Denn bei den kommenden Betriebsratswahlen können auch andere Arbeitnehmer*innen dazu ermutigt werden, sich als Betriebsratsmitglieder aufstellen zu lassen. Dadurch kann eine vielfältige Zusammensetzung angestrebt werden, die gleichzeitig die Unternehmenskultur stärkt.

Diversitätsmaßnahmen im Arbeits- und Gesundheitsschutz

Auch im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes können Diversitätsmaßnahmen sinnvoll eingesetzt werden, durch eine umfassende Gefährdungsbeurteilung für alle Arbeitnehmer*innen. Die Gefährdungsbeurteilung umfasst die Ermittlung und Bewertung aller relevanten Gefahren und Belastungen, die bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit auftreten können. Gemäß § 5 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) ist der*die Arbeitgeber*in dazu verpflichtet, potenzielle Gefährdungen zu bewerten. Darüber hinaus sieht § 87 Abs. 1 Nr. 7 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) vor, dass der Betriebsrat bei Maßnahmen des Arbeitsschutzes, insbesondere bei der Gefährdungsbeurteilung, beteiligt werden muss. Daher kann der Betriebsrat speziell für Arbeitnehmer*innen mit körperlichen Beeinträchtigungen Maßnahmen durchführen, um sicherzustellen, dass ihre Bedürfnisse angemessen berücksichtigt werden, beispielsweise in Bezug auf die Arbeitsplatzgestaltung. Außerdem ist die Zusammenarbeit mit Inklusionsbeauftragten empfehlenswert.

Wir können so viel bewirken!

Wie hoffentlich allen Leser*innen klar geworden ist, haben wir als Betriebsrat zahlreiche Möglichkeiten, Diversity & Inclusion im Unternehmen durchzuführen und umzusetzen. Dank unserer Mitbestimmungsrechte können wir als Betriebsrat effektiv dazu beitragen, dass Vielfalt und Chancengleichheit nicht etwa als „Diversity Washing“ für das Image eines Unternehmens genutzt, sondern ernsthaft solidarisch gelebt werden. Wir sind gesellschaftspolitisch viel stärker involviert, als wir es vielleicht wahrnehmen! Jede*r von uns im Betriebsrat hat eine Stimme und kann als Sprachrohr agieren, um unsere Demokratie zu schützen und zu fördern.

Quellen:

Antidiskriminierungsstelle (2023), „Jahresbericht der Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung“. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/aktuelles/DE/2023/20230627_Jahresbericht_2022.html (Stand: 5.10.2023)

Empfehlungen zum Thema Diversity & Inclusion und Antidiskriminierung:

  • Charta der Vielfalt. Für Diversity in der Arbeitswelt „Vielfalt fair gestalten. Diversity Management für betriebliche Interessenvertretungen“ Link: https://www.charta-der-vielfalt.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Charta_der_Vielfalt-ANV-Brosch-WEB-RZ01.pdf
  • Annahita Esmailzadeh: „Von Quotenfrauen und alten weißen Männern. Schluss mit Vorurteilen in der Arbeitswelt“
  • Annika Schach: „Diversity & Inclusion in Strategie und Kommunikation: Vielfalt in Konzeption, Kultur und Sprache im Unternehmen“
  • Raúl Aguayo-Krauthausen: „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.“
  • Aladin El-Mafaalanie: „Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand“

[1] Die Charta der Vielfalt ist eine Organisation, die sich aktiv dafür engagiert, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von jeglichen Vorurteilen ist und alle Mitarbeiter*innen in einer respektvollen und wertschätzenden Umgebung arbeiten können.

Vier Thesen zur Belegschaftsarbeit des Betriebsrates

I Es gibt keine Belegschaft

In euren Betrieben arbeiten Menschen, die sich zum Teil kennen und zum Teil nicht. Sie üben oft ähnliche Tätigkeiten aus, manchmal aber auch ganz unterschiedliche. Das gemeinsame Arbeiten im selben Unternehmen und für denselben Arbeitgeber verbindet sie. Dadurch kann ein Gefühl von Solidarität entstehen, genauso aber auch von Konkurrenz.

Ihr habt im Betrieb einen Betriebsrat errichtet. Vielleicht existiert dieser auch schon recht lange. Das erfordert ein gewisses Maß an Organisation. In der Regel sind jedoch nur wenige Kolleg*innen aktiv daran beteiligt. Viele werden es begrüßen, dass es einen Betriebsrat gibt, aber viele werden sich auch nicht sehr intensiv damit beschäftigt haben. Auch wird es immer eine Gruppe von Personen geben, die dem Betriebsrat nichts Positives abgewinnen können.

Die Existenz eines Betriebsrats bedeutet nicht automatisch, dass ihr auch eine organisierte Belegschaft habt, die den Betriebsrat aktiv bei seiner Arbeit unterstützt. Die Wahl eines Betriebsrats ist zwar ein wichtiger Schritt, aber nur einer von vielen.

Wenn in eurem Betrieb eine Gewerkschaft mit vielen Mitgliedern aktiv ist, werden diese einen wesentlichen Beitrag zur Organisationsarbeit leisten, oft schon vor der ersten Wahl des Betriebsrats. Hier sollte sich der Betriebsrat den Bemühungen der Gewerkschaft anschließen. Wenn keine Gewerkschaft aktiv ist, wird die eigene Organisationsarbeit des Betriebsrats umso wichtiger.

Der Betriebsrat muss selbst dafür sorgen, dass seine Belegschaft organisiert ist: Alle Kolleg*innen sollten über den Betriebsrat und seine Arbeit informiert sein und die Rechte und Pflichten des Betriebsrats kennen. Vor allem sollten sie ihre eigenen Rechte im Rahmen der Betriebsverfassung und gegenüber dem Arbeitgeber kennen. Sie müssen sich selbst als handlungsfähige Personen im Betrieb sehen und nicht nur als Empfänger von Anweisungen. Sie sollten in der Lage sein, betriebliche Angelegenheiten kritisch und konstruktiv zu verfolgen und ihre Ziele und Interessen gegenüber dem Betriebsrat und dem Arbeitgeber zu kommunizieren und einzufordern. Schließlich sollten sie sich miteinander verbunden fühlen und gemeinsam für ihre Interessen eintreten.

Alle Anstrengungen des Betriebsrats, seine Belegschaft in dieser Weise zu informieren, zu befähigen und zu vereinen, können als Belegschaftsarbeit bezeichnet werden.

II Es gibt keine Belegschaftsarbeit

Belegschaftsarbeit ist nicht von den anderen Aufgaben des Betriebsrates zu trennen. Belegschaftsarbeit ist immer Betriebsratsarbeit und der Betriebsrat muss seine Arbeit immer auch als Belegschaftsarbeit verstehen. Die gängige Redewendung „tue Gutes und rede darüber“ führt in die Irre. So hat man den Eindruck, der Betriebsrat solle zunächst gute und für die Belegschaft wichtige Vorhaben umsetzen und erst im zweiten Schritt den Kolleg*innen davon berichten. Wenn man seine Belegschaft aktivieren und befähigen will, dann reicht das nicht aus.

Stattdessen sollte der Betriebsrat seine Arbeit von der Basis aus planen. Jedes Vorhaben muss bei der Belegschaft beginnen. Die Kolleg*innen selbst sollen darüber entscheiden, welche Projekte der Betriebsrat überhaupt beginnt. Das Gremium und seine Mitglieder nutzten dann die Ressourcen des Betriebsrates wie Freistellung, Schulung, Sachmittel, Sachverständige und Zugang zu Informationen, um die Vorhaben der Belegschaft zu recherchieren, zu entwickeln und gegenüber dem Arbeitgeber zu vertreten. Viele konkrete Entscheidungen wird der Betriebsrat dabei selbst als Kollegialorgan fällen müssen. Bei den grundlegenden Fragen zur Ausrichtung des Projektes sollte er jedoch regelmäßig Rücksprache mit seiner Belegschaft halten. Die Kolleg*innen sind dadurch ständig beteiligt. Aus dem Vorhaben des Betriebsrates wird ein Vorhaben der gesamten Belegschaft

Oftmals präsentieren Betriebsräte der Belegschaft nur bereits abgeschlossene Ergebnisse. Das ist ein großer Fehler. So haben die Kolleg*innen keine Möglichkeit sich zu beteiligen. So macht der Betriebsrat seine eigene Belegschaft passiv und inaktiv. Wenn der Betriebsrat so agiert, kann er nicht erwarten, dass die Belegschaft sich von selbst einbringt und den Betriebsrat aktiv unterstützt.

III Es gibt nicht DIE Belegschaftsarbeit

Wie sieht eine gute und effektive Belegschaftsarbeit aus? Das muss jedes Gremium individuell entwickeln. Denn die Bedingungen variieren von Betrieb zu Betrieb: Die Belegschaftszusammensetzung, das Betriebsklima, die betriebliche Sozialordnung und -kultur, die Kommunikation im Betrieb, die Art der Tätigkeiten, die Arbeitsorganisation, das Arbeitszeitsystem, die räumlichen Gegebenheiten, die Ausstattung der Arbeitsplätze, die Affinität der Kolleg*innen zu digitalen Medien – all diese Faktoren und viele weitere bestimmen, wie der Betriebsrat am besten mit seinen Leuten in Kontakt treten kann. Methoden wie Betriebsversammlungen, Sprechstunden, das Schwarze Brett, Rundschreiben, Betriebsbegehungen, Einzelgespräche, Intranet-Präsenz, Social Media und Messenger-Dienste, sogar organisierte Freizeitveranstaltungen – all diese Ansätze funktionieren in einigen Betrieben ausgezeichnet, während sie in anderen überhaupt nicht wirksam sind.

Jeder Betriebsrat muss eine eigene Belegschaftsstrategie entwickeln. Dafür müssen die Bedingungen im Betrieb gut analysiert und auch verschiedene Methoden ausprobiert werden.

IV Jeder Betriebsrat hat Belegschaftsarbeit verdient

Die ersten Thesen klingen im ersten Moment so, als sollten Betriebsräte einfach noch mehr arbeiten. Anstatt betriebliche Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber zu führen – was bereits schon herausfordernd ist – soll er nun alle Fragen erst einmal mit der gesamten Belegschaft besprochen; Alle Kolleg*innen sollen aktiv in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Damit das gelingt, muss der Betriebsrat zuerst sicherstellen, dass möglichst viele Kolleg*innen verstehen, worum es geht, was durch betriebliche Mitbestimmung erreicht werden kann und was nicht. Zudem muss der Betriebsrat dafür auch noch die für seinen Betrieb passenden Methoden entwickeln. Betriebsräte haben jetzt schon viel zu tun, warum sollten sie sich nun auch noch solche Aufgaben ans Bein binden?

Belegschaftsarbeit ist im eigenen Interesse des Betriebsrates. Denn jeder Betriebsrat verdient eine interessierte, aktive und geeinte Belegschaft. Betriebsräte leisten eine erhebliche Arbeit. Die Betriebsratsmitglieder engagieren sich oft weit über ihre reguläre Arbeitszeit hinaus. Sie haben es verdient, dass die Belegschaft ihr Engagement wertschätzt, Interesse zeigt und den Betriebsrat in all seinen Bemühungen unterstützt:  indem sie zu den Betriebsversammlungen kommen, die Newsletter lesen, an Umfragen teilnehmen, interessierte Fragen an den Betriebsrat richten, Vorschläge einbringen und eigene Ideen vorstellen. Und wenn es nur ein ordentlicher Applaus am Ende der Betriebsversammlung oder ein Schulterklopfer bei der Betriebsbegehung ist. Der Betriebsrat braucht den Zuspruch seiner Leute.

Vor allem, wenn die Auseinandersetzungen mit der Arbeitgeberseite intensiver werden, braucht der Betriebsrat den Rückhalt seiner Kolleg*innen. Der Betriebsrat hat die zwar Mitbestimmungsrechte aus dem Betriebsverfassungsrecht auf seiner Seite. Das reicht aber oft nicht aus. Der Arbeitgeber muss spüren, dass er nicht nur den wenigen Betriebsratsmitglieder, sondern der gesamten Belegschaft gegenübersteht. Nur wenn die Belegschaft geschlossen hinter dem Betriebsrat steht, können in strittigen Fragen erfolgreiche Einigungen erzielt werden. Mit einer starken Belegschaft im Rücken kann der Betriebsrat auch Themen ansprechen, bei denen möglicherweise keine direkten Mitbestimmungsrechte bestehen.

Der Betriebsrat hat es verdient mit seiner Arbeit erfolgreich zu sein. Schließlich geht es darum den Betrieb im Interesse der Belegschaft zu verändern und zu verbessern. Am Verhandlungstisch wird der Betriebsrat sitzen, die Verantwortung dafür trägt aber die gesamte Belegschaft, die ihren Betriebsrat dabei so gut wie möglich unterstützen muss.

Belegschaftsarbeit ist daher nicht nur die Aufgabe des Betriebsrats, um die Belegschaft zu aktivieren, sondern auch die Arbeit, die die Belegschaft selbst leistet, um ihren Betriebsrat zu unterstützen. Für betriebspolitische Erfolge tragen beide Seiten Verantwortung.

R+A Konferenz für Betriebsräte

„Neue Lösungen für aktuelle Herausforderungen der BR-Arbeit“


Vom 20. bis 22. September findet die erste R+A Betriebsrätekonferenz im NH Hotel auf der Fischerinsel 12 in Berlin statt. Hier erfahrt Ihr, warum sich eine Teilnahme lohnt, warum der Arbeitgeber die Kosten tragen muss und wie das Programm aussieht.

Die Anmeldeunterlagen könnt Ihr hier herunterladen

Warum sollte ich an der R+A Betriebsrätekonferenz teilnehmen?

Unsere Konferenz bietet insgesamt fünf Vorträge und neun Workshops zu verschiedenen Themen, darunter Arbeits- und Gesundheitsschutz, Datenschutz, Kommunikation, Arbeitsrecht und natürlich Betriebsverfassungsrecht. Im Gegensatz zu Seminaren, die sich auf eine bestimmte Fragestellung konzentrieren, könnt Ihr bei unserer Konferenz einen aktuellen Überblick über verschiedene Bereiche bekommen. Ihr lernt von mehr als einem Dutzend Expert*innen, darunter Prof. Wolfgang Däubler, Thomas Berger, Steffi Kirschner und anderen Kolleg*innen, die Ihr bereits von unseren Semiraren kennt.

Die Konferenz heißt „Neue Lösungen für aktuelle Herausforderungen der BR-Arbeit“. Wir werden die neuesten Entwicklungen in Bezug auf Rechtsprechung, Technologie und Organisation diskutieren. Ihr werdet viele neue Ideen und alternative Ansätze zurück in Euren Betriebsrat bringen.

Darüber hinaus hat die Bundesregierung angekündigt, noch vor der Sommerpause den Entwurf einer weitreichenden Reform des Betriebsverfassungsgesetzes zu veröffentlichen. Im Herbst könnte dieser bereits im Bundestag beschlossen werden und in Kraft treten. Wir und unsere Referent*innen begleiten diese Entwicklung sehr eng, und die R+A Betriebsrätekonferenz wird eine der ersten Veranstaltungen sein, auf der alle geplanten Änderungen vorgestellt und diskutiert werden.

Wir planen mit einer Teilnehmerzahl von 30 bis 60 BR-Mitgliedern. Im Gegensatz zu Seminaren gibt es also noch mehr Möglichkeiten, Kollegen aus anderen Betrieben kennenzulernen und sich auszutauschen. Durch sechs Netzwerktreffen im Rahmen der Konferenz unterstützen wir dies. Der Kontakt unter den Teilnehmern ist ein wichtiges Ziel der Konferenz.

An beiden Abenden haben wir ein spannendes Rahmenprogramm mit Filmen und einer politischen Diskussionsrunde organisiert. Das NH-Hotel ist ein attraktiver Veranstaltungsort mit mehreren großen Räumen, toller Technik, leckerem Essen und einer zentralen Lage. Zusätzlich erhalten alle Teilnehmer*innen ein großes Goodie-Paket mit verschiedenen Artikeln aus gemeinwohlorientierter Produktion.

Muss der Arbeitgeber die Teilnahme bezahlen?

Die kurze Antwort ist: Ja, Euer Arbeitgeber muss die Teilnahme- und Tagungskosten tragen.  es handelt sich bei unserer Konferenz genauso wie bei unseren Seminaren um eine erforderliche Schulungsmaßnahme nach § 37 Abs. 6 BetrVG. In der Vergangenheit haben sich auch schon die Arbeitsgerichte mit dieser Frage beschäftigt (vgl. LAG Hamburg 4.12.2012- 4 TaBV 14/11, juris) Konferenzen sind dann erforderlich, wenn durch Workshops und andere Formate noch eine individuelle Beziehung zwischen Lehrpersonen und Teilnehmer*innen gewährleistet ist. Genau das ist auf unserer Konferenz der Fall und sogar ein wichtiger Teil der Veranstaltung.

Wenn Ihr aus einer anderen Stadt anreist, müsste der Arbeitgeber auch die Fahrt- und Übernachtungskosten übernehmen. Die Anmeldung erfolgt durch einen BR-Beschluss zur Teilnahme und anschließender Anmeldung bei uns. Ihr müsst uns dann das von Eurem Arbeitgeber unterschriebene Kostenübernahmeformular zukommen lassen. Alles so, wie Ihr es auch von den Seminaren kennt

Ihr könnt die Anmeldeunterlagen hier herunterladen.

Konferenz-Programm

UhrzeitMittwoch 20. September
ab 11:30
bis 13:30
Ankommen, MIttagessen und erste Möglichkeiten zum Vernetzen
13:30 bis 14:00Begrüßung und Organisatorisches – René Kluge (Recht und Arbeit)
14:00 bis 15:30Vortrag und Diskussion: “Mitbestimmung (wirklich) auf Augenhöhe?!”RA Thomas Berger
(Kanzlei BGHP)
15:30 bis 16:00Pause 
16:00 bis 17:00Input-Vortrag: “n.n.” – “n.n.”
17:00 bis 18:30Vernetzungstreffen nach Branchen:
– Handel
– Soziale Dienste
– Tech- und andere Dienste
18:30 bis 19:30Abendessen 
20:00 bis 22:00Filmabend
UhrzeitDonnerstag 21. September
09:00 bis 10:30Vortrag und Diskussion: „Gefährdungsbeurteilung psychische Belastung – Arbeiten unter verschärften Bedingungen: Arbeitsverdichtung, Gewinnoptimierung und vollflexible Arbeitszeit“
RA Steffi Kirschner (Kanzlei Zehn+)
10:30 bis 11:00Pause 
11:00 bis 12:30Workshopsession I

– “virtuelle BR-Sitzung und Sachmittel” – RA Laura Redmer (Kanzlei Zehn+)

– „Antworten auf komplexe Herausforderungen brauchen ein WIR – Wie kann aus unterschiedlichen Persönlichkeiten ein starkes Gremium werden?“– Claudia Erler (Kommunikationstrainerin)

– Digitalisierung und Gesundheit – Christina Meyn (TU Dortmund)
12:30 bis 13:30Mittagessen 
13:30 bis 15:00Workshopsession II

– „Mitbestimmung bei Ökologie im Betrieb konkret – erzwingbare und freiwillige Regelungen“ – RAin Stephanie Toerkel (Kanzlei BGHP) 

– „Arbeitszeit unter Berücksichtigung neuester Rechtsprechung und politischer Entwicklungen“ Uwe Nawrot (Kanzlei BGHP)

– “Desk Sharing/Clean Desk Policy und andere Fragen im Bereich mobiler Arbeit” – RAin Carolin Auerbach (Kanzlei Zehn+)
15:00 bis 15:30Pause 
15:30 bis 17:00Input-Vortrag “Aktuelle Gesetzgebung im Bereich Arbeit und Soziales”

– Jana Göttsching, Jana Werner und Marcel Braun (Fraktion DIE LINKE im Bundestag)
17:00 bis 18:30GBR-Netzwerktreffen Dienstleistungen 
18:30 bis 19:30Abendessen 
20:00 bis 22:00Werkstattgespräch zum Thema „Grenzen der Mitbestimmung überwinden – Wer kann wie mehr Demokratie und Beteiligung im Betrieb durchsetzen?“
Damiano Quinto (ver.di) Moritz W. (Lieferando Workers Collective), Jan Dieren (Rechtsanwalt und MdB, SPD) Susanne Ferschl (ehem. BR-Vorsitzende und MdB, DIE LINKE) Micha Klapp (Leiterin Rechtsabteilung DGB)
 
Uhrzeit Freitag 22. September
09:00 bis 10:30Vernetzungstreffen nach Herausforderungen:
– Internationale und mehrsprachige BR-Arbeit
– Überwachung
– Strategien gegen Betriebsratsbehinderung
10:30 bis 11:00Pause 
11:00 bis 12:30Workshopsession III

“Aktuelles zum Arbeitsschutz” Thorsten Schäfer (Beratungsstelle Arbeit und Gesundheit)

„Mitbestimmung bei Maßnahmen beruflicher Weiterbildung vor dem Hintergrund aktueller Gesetzesänderungen“ RAin Deria Gomm (Kanzlei BGHP)

„Gewerkschaftsrechte von Betriebsratsmitgliedern: Wie lassen sich beide Rollen verbinden?“- RA Daniel Weidmann (Kanzlei dka)
12:30 bis 13:30Mittagessen 
13:30 bis 15:00Vortrag und Diskussion: “Klimaschutz und Mitbestimmung” – Prof. Wolfgang Däubler
15:00 bis 15:30Optionales Angebot zur Vernetzung beim Rausgehen

Betriebsratsarbeit im Lebensmitteleinzelhandel

Netzwerk- und Orientierungstreffen
Schwerpunktthema: Wirtschaftliche Lage
der Branche

Die Corona-Pandemie bedeutete außerordentliche Herausforderungen für den Lebensmitteleinzelhandel: Infektionsgefahr, Hamsterkäufe. Lieferengpässe und steigende Konkurrenz durch online-Lieferdienste. Betriebsräte waren in vielfacher Hinsicht gefordert im Rahmen ihrer Mitbestimmungsrechte die Position der Beschäftigten in dieser Zeit zu stärken.
Wie steht die Branche nun nach einem deutlichen Rückgang der Pandemie da und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Arbeit von Betriebsräten in ihrer neuen Amtszeit? Mit Hilfe des wirtschaftlichen Sachverständigen Bert Warich und der Anwältin und Betriebsratsberaterin Laura Redmer werden wir diese Frage im Rahmen der Veranstaltung
gemeinsame diskutiert werden.

Diese Veranstaltungsreihe soll neu gewählten und sich bereits seit längerer Zeit im Gremium befindlichen BR-Mitgliedern aus dem Bereich des Lebensmitteleinzelhandels eine Orientierung ihrer Arbeit ermöglichen, indem sie andere Betriebsräte aus ihrer Branche kennenlernen und sich mit ihnen Austauschen können. Erfrischungsgetränke und ein kleines Catering werden bereitstehen.

10. August 2022, 09:15 bis 13:00 Uhr im Meeet-Pavillion, Chausseestr. 86, 10115 Berlin

Für die Anmeldung bitte hier die vollständige Ausschreibung herunterladen. Es fallen keinerlei Kosten an. Die Teilnahme ist für BR-Mitglieder kostenlos

Geschlechterverteilung im Betriebsrat – ein Kampf um Sitze und Gerechtigkeit

2022 ist Wahljahr! Ab 1. März finden die nächsten regelmäßigen Betriebsratswahlen statt. Bis zum 31. Mai müssen alle Gremien neu gewählt werden. Nach den Bundestags- und Europawahlen sind die Betriebsratswahlen die wahrscheinlich größten demokratischen Wahlen in Deutschland.

Die Mitglieder des Betriebsrates werden in freier, direkter und geheimer Wahl von allen wahlberechtigten Arbeitnehmer*innen des Betriebes gewählt. Selbstverständlich zählt jede Stimme gleich viel.

Bei näherem Hinsehen gibt es jedoch eine entscheidende Abweichung von diesen Wahlgrundsätzen. An einer Stelle greift das Betriebsverfassungsgesetz nämlich erheblich in die Gleichheit der Wahl ein: wenn es um die Zusammensetzung des Betriebsrates nach Geschlechtern geht.

Das D’Hondt-Verfahren bei Betriebsratswahlen – Mindestsitze für das Geschlecht in der Minderheit

§ 15 Abs. 2 BetrVG regelt, dass das Geschlecht, das in der Belegschaft in der Minderheit ist, mindestens seinem zahlenmäßigen Verhältnis entsprechend im Betriebsrat vertreten sein muss. Für das Minderheitengeschlecht gibt es also eine Quotenregelung, die einen Mindestsockel an Betriebsratssitzen festschreibt. Kommt diese Regel zur Anwendung, entscheidet bei der Verteilung der Sitze nicht mehr die höhere Stimmenanzahl, sondern das Geschlecht über die Zugehörigkeit zum Betriebsrat. Die Berechnung erfolgt nach dem sogenannten D’Hondt-Verfahren. Macht das Minderheitengeschlecht nur einen kleinen Teil der Belegschaft aus, kann es sein, dass es gar keine Mindestsitze erhält. Ist der Anteil jedoch groß, können dem Minderheitengeschlecht bis zu 40 Prozent der Betriebsratsmandate als Mindestsitze zugeschrieben werden. Manchmal sogar mehr.

Früher handelte es sich hierbei lediglich um eine Soll-Vorschrift. Seit der Reform 2001 ist sie jedoch zwingend vorgeschrieben. Der Gesetzesbegründung von damals ist zu entnehmen, dass sichergestellt werden soll, „dass der Zugang von Frauen zum Betriebsrat, in dem sie in aller Regel unterrepräsentiert sind, nicht nur erleichtert, sondern auch tatsächlich durchgesetzt wird.“[1]

Anteil weiblicher BR-Mitglieder im Laufe der Zeit

1975 waren gerade mal 16 Prozent der BR-Mitglieder Frauen. 1994 war diese Zahl zwar auf 24 Prozent gestiegen, doch Frauen machten zu diesem Zeitpunkt schon 43 Prozent der Beschäftigten in den Betrieben aus. Zum Zeitpunkt der Reform war der Anteil von weiblichen BR-Mitgliedern sogar leicht auf 23 Prozent gefallen. In den kommenden Jahren stieg er aber wieder an: 2006 auf 24 Prozent, 2010 auf fast 26 Prozent[2]. Mittlerweile sind 31 Prozent aller BR-Mitglieder weiblich[3], allerdings sind inzwischen auch 47 Prozent aller Erwerbstätigen Frauen. Das heißt also: Trotz der steten Steigerung sind Frauen in BR-Gremien weiterhin deutlich unterrepräsentiert.

Vorschrift mit Haken: Mindestsitze nach Geschlechtern können Frauen auch verdrängen

Die Vorschrift des § 15 Abs. 2 BetrVG hat augenscheinlich dazu beigetragen, Frauen in männlich dominierten Belegschaften den Weg in den Betriebsrat zu erleichtern. Was aber ist mit Betrieben und Branchen, in denen Frauen die Mehrheit in der Belegschaft ausmachen? Dies betrifft wichtige Sektoren, wie Gesundheits-, Pflege und Erziehungsberufe, Verwaltungen, Reinigung, Hotel- und Gaststättengewerbe oder auch den Einzelhandel. In Betrieben dieser Branchen bilden Männer das Minderheitengeschlecht. Folglich sind es dann auch Männer, denen die Mindestsitze im Gremium zustehen. Die Betriebsratswahl hat dann eine Männerquote!

In der Praxis bedeutet dies, dass in den Betriebsrat gewählte Frauen von „Quoten-Männern“ mit weniger Stimmen verdrängt werden können. In vielen Branchen wie dem Einzelhandel, der Pflege und den Sozial- und Erziehungsdiensten ist die Mitbestimmungskultur weiblich geprägt: Es sind Frauen, die die erstmalige Gründung von Betriebsräten initiiert haben und sich mehrheitlich im Gremium engagieren. Jede Wahl aufs Neue müssen kämpferische Kolleginnen ihren Platz im BR nicht nur gegen den Druck des Arbeitgebers, sondern auch gegen die Quote verteidigen. Ist die eigene Vorschlagsliste nur mit Frauen besetzt, könnte es passieren, dass auf der arbeitgebernahen Gegenliste ein einzelner Mann mit Hilfe der Quote einer Frau den Platz im Gremium wegschnappt. Um bei der Feststellung des Wahlergebnisses nicht das Nachsehen zu haben, müssen dann schon bei der Listenaufstellung Männer bevorzugt berücksichtigt werden – eine für die Kolleginnen irritierende und nicht selten empörende Situation.

Was wäre gerecht und auf der Höhe der Zeit?

Nun könnte man einwenden, dass eine neutrale Gleichstellungsquote doch die beste Methode sei: Egal ob Frauen oder Männer, beide Geschlechter sollten möglichst anteilig im Gremium vertreten sein. Lediglich Frauen von einer Quote profitieren zu lassen, sei nicht gerecht. Eine Quote ist aber nicht die Antwort auf schlichte Unterrepräsentanz, sondern ein Mittel im Kampf gegen strukturelle Benachteiligung. Aus den oben genannten Zahlen geht klar hervor: In der Vergangenheit und auch aktuell ist es für weibliche Beschäftige wesentlich schwerer als für männliche, Betriebsratsmitglied zu werden. Die Gründe dafür sind komplex, aber sie sind real.

Wenn das Betriebsverfassungsrecht mit § 15 Abs. 2 in Wahlgrundsätze eingreift und ordentlich gewählten Kandidat*innen aufgrund ihres Geschlechtes zugunsten anderer Kandidat*innen den Sitz im Betriebsrat verwehrt, ist dies zum Vorteil von Frauen gerechtfertigt, weil damit konkret bestehende Nachteile ausgeglichen werden. Im Falle von Männern ist dies jedoch nicht gerechtfertigt. Auch in weiblich dominierten Branchen können Männer problemlos Mitglied des Betriebsrates werden. Sie sind in den dortigen Gremien überrepräsentiert und brauchen keine Quote.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte bereits 2006 über diese Norm entscheiden müssen[4] und sah damals keine verfassungsrechtlichen Probleme. Allerdings ging es in dem Verfahren um einen Betrieb, in dem Frauen das Minderheitengeschlecht stellten. Eine Entscheidung des BAG oder des Bundesverfassungsgerichts zur Männerquote bei Betriebsratswahlen fehlt bisher. Auch in der Kommentarliteratur spielt dieses Thema erstaunlicherweise kaum eine Rolle.

Umso größer ist der Ärger auf der betrieblichen Ebene. Diese Regel muss dringend verändert werden. Das Betriebsverfassungsgesetz muss auf der Höhe der Zeit agieren, sonst büßt es und mit ihm die ganze Institution Betriebsrat an Glaubwürdigkeit ein. Leider hat die Große Koalition weder beim Betriebsrätemodernisierungsgesetz noch bei der Reform der Wahlordnung im letzten Jahr eine entsprechende Neuregelung vorgenommen.

Das dritte Geschlecht wird in der Wahlordnung noch immer übergangen – Was tun?

Untätig war die letzte Regierung auch bei der Frage des so genannten dritten Geschlechts. Das Bundesverfassungsgesetz hat bereits 2017 die rechtliche Existenz nichtbinärer Geschlechtsidentitäten anerkannt. Das Betriebsverfassungsgesetz und die Wahlordnung tragen dem bislang keine Rechnung. Wie sollen Betriebsräte und vor allem Wahlvorstände nun damit umgehen? Das ist weiterhin ungeklärt. Es ist aber keine Lappalie oder nur Formsache; es geht hier um den Schutz von Persönlichkeitsrechten. Ob die Wählerliste nun nach Männern und Frauen oder doch nach drei Geschlechtern unterteilt ist, mag für viele irrelevant erscheinen. Die eigene geschlechtliche Identität missachtet zu sehen oder misgendert zu werden, kann aber schmerzhaft sein.

Sollte es Kolleg*innen geben, die sich im Betrieb als inter/divers identifizieren, stehen dem Wahlvorstand unterschiedliche Möglichkeiten offen, darauf bewusst zu reagieren:

Der Wahlvorstand kann das dritte Geschlecht bei der Berechnung des Minderheitengeschlechts ignorieren.[5] In diesem Falle würde er die Auffassung vertreten, dass Kolleg*innen mit dieser Geschlechtsidentität zwar vor Diskriminierung geschützt werden müssen, ihre Vertretung im Betriebsrat aber nicht aktiv gefördert werden muss.

Möglich wäre es auch, von jeweils zwei Minderheitengeschlechtern auszugehen und das D’Hondt-Verfahren mit allen drei Geschlechtern durchzuführen. In der Praxis würde sich dadurch wahrscheinlich nichts ändern, aber es wäre ein klares Zeichen der Berücksichtigung des dritten Geschlechts – und damit eben keine reine Formsache.

Man hört auch die Idee, die beiden Minderheitengeschlechter zusammenzufassen. Das wiederum widerspricht aber gerade dem Konzept eines dritten Geschlechts.

Eine weitere Möglichkeit: Der Wahlvorstand könnte § 15 Abs. 2 BetrVG nach dem Wortlaut lesen und das dritte Geschlecht als eigenständiges, im Betrieb vertretenes Geschlecht werten. Es wäre dann wohl immer das Minderheitengeschlecht. Da in der Arbeitswelt nur wenige Beschäftigte offen mit einer nichtbinären Geschlechtsidentität leben, würden wahrscheinlich fast nie Minderheitenplätze auf das dritte Geschlecht entfallen. Der – möglicherweise gewollte – Nebeneffekte wäre dann, dass weder Frauen noch Männer von Minderheitenplätzen profitieren würden. Über die Plätze im Betriebsrat würde dann einzig das Wahlergebnis entscheiden. Das würde die Quotenregelung des Betriebsverfassungsgesetzes gänzlich aushebeln. Der Wahlvorstand wird wissen, wann diese Verfahrensweise angebracht sein könnte und wann nicht.

Jeder Schritt zählt

Verlässliche Gerechtigkeit bei der geschlechtsbezogenen Sitzverteilung im Betriebsrat bedarf einer gesetzlichen Neuregelung. Solange diese fehlt, können Wahlvorstände durch bewusste Entscheidungen bei der Vorbereitung und Durchführung der Betriebsratswahl ihren Beitrag dazu leisten, die strukturelle Benachteiligung von Frauen und nichtbinären Menschen zu bekämpfen. Auch wenn die Schritte klein sind – sie sind wichtig auf dem Weg zu einer diskriminierungsfreien, geschlechtergerechten und vielfältigen Gesellschaft.


[1] BT-Drucksache 14/5741, Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes

(BetrVerf-Reformgesetz), S. 37.

[2] Vgl. Trendreport Betriebsratswahlen 2010.

[3] Vgl. Trendreport Betriebsratswahlen 2018. Mitbestimmungsreport Nr. 60. Juni 2020.

[4] BAG Beschluss vom 16.03.2005 – 7 ABR 40/04.

[5] So empfiehlt es Däubler 2020, BetrVG § 15 Rn. 11.

Wahlvorstände sind politische Gremien!

Wichtige Aufgaben und Handlungsspielräume von Wahlvorständen bei der Betriebsratswahl

Bei Gorillas in Berlin soll in diesem Monat ein Betriebsrat gewählt werden. Was die Wahl motiviert hat und wie steinig der Weg war, wurde hier schon dargestellt. Das Gorillas Workers Collective (GWC) und das gewagte Vorgehen der Kolleg*innen rund um den Wahlvorstand werden aber nicht von allen begrüßt. Jüngst hat ein Kollege von ver.di aus dem Fachbereich Handel im ipg-journal kritisch kommentiert, dass der Wahlvorstand kein politisches Gremium sei, sondern sich an spezifische gesetzliche Regelungen halten müsse.

Wer die Aufgabe des Wahlvorstandes auf das trockene Erfüllen der Vorgaben der Wahlordnung reduziert (Fristen, Formulare und sonstige Wahl-Bürokratie), wird seiner Bedeutung nicht gerecht – und bedient darüber hinaus ein verbreitetes Vorurteil. Selbstverständlich muss sich der Wahlvorstand an die Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes und der Wahlordnung halten. In diesem Rahmen stehen ihm aber Handlungsspielräume  auf der Grundlage der (rechtlichen) Beurteilungsspielräume offen. Diese Spielräume kann er betriebspolitisch nutzen – und sollte dies auch tun. Das bedeutet also: Wahlvorstände sind sehr wohl  Gremien mit politischer Ausstrahlung! Sie sind demokratisch legitimiert; bei der Erstwahl werden sie meist von der Belegschaft direkt gewählt, in anderen Fällen vom gewählten Betriebsrat oder Gesamtbetriebsrat bestellt.  Um diese Möglichkeiten auch nutzen zu können, ist eine Schulung des Wahlvorstandes unverzichtbar, am besten natürlich durch eine Organisation, Institution, die einen parteiischen Blick auf die Betriebsverfassung hat. Die Auseinandersetzung z.B. mit dem „Betriebsbegriff“ braucht zweierlei:  Ein Verständnis davon, dass das Recht der Betriebsverfassung eben auch Organisationsrecht der abhängig Beschäftigten ist und ein Kennen der rechtlichen (Un)Möglichkeiten in einer natürlich offensiven Interpretation der Gesetzeslage.

Die Betriebsratswahlen 2022 stehen vor der Tür. Um die Wahlen zu organisieren, werden derzeit in vielen Betrieben Wahlvorstände eingesetzt. Vor diesem aktuellen Hintergrund ist es besonders wichtig, die (betriebs-)politische Dimension der Arbeit von Wahlvorständen noch einmal zu beleuchten. Im Folgenden werden fünf dieser Aspekte näher beschrieben und mit Beispielen aus der Praxis untermauert.

  1. Der Wahlvorstand klärt: Wer nimmt an der Betriebsratswahl teil?

Bei Gorillas war unter anderem strittig, wer an der Betriebsratswahl teilnehmen darf. So genannte „leitende Angestellte“ haben weder das passive noch das aktive Wahlrecht. In der Praxis ist es oft nicht einfach, genau zu bestimmen, wer im Betrieb leitende*r Angestellte*r ist. Dem Wahlvorstand kommt hier die Aufgabe zu, das Gesetz auszulegen und folgerichtig festzulegen, wer leitende*r Angestellte*r ist und wer nicht. Dies kann ggf. gerichtlich überprüft werden, aber der Wahlvorstand schafft zuerst Tatsachen. Das hat oft betriebspolitische Konsequenzen. Denkbar ist, dass der Arbeitgeber ein Interesse daran hat, dass leitende Angestellte an der Wahl teilnehmen, weil er sich von ihnen besondere Loyalität bei der Stimmabgabe oder gar die Bildung einer gelben Liste erhofft. Andersherum könnte der Arbeitgeber auch den Wunsch haben, einfache Arbeitnehmer*innen als leitende Angestellte zu klassifizieren, um sie von der Wahl auszuschließen. Der Wahlvorstand muss hier politisch denken, die Konstellation erkennen und im Interesse der Belegschaft entscheiden.

  • Der Wahlvorstand definiert: Was ist „der Betrieb“, für den gewählt wird?

Eine kritische Analyse und das entschlossene Vorgehen des Wahlvorstands sind essenziell wichtig, wenn es darum geht, für welche Einheit überhaupt gewählt werden soll. Was ist „der Betrieb“? Auch über diese Frage entscheidet in erster Linie der Wahlvorstand. Bei Gorillas wurde dieser Punkt relevant, als der Arbeitgeber kurzerhand ein zweites Unternehmen gründete und alle Beschäftigten in den Betrieb des neuen Unternehmens übergehen ließ. Ganz aktuell erfährt das Thema erneute Relevanz, denn Gorillas will kurz vor der Wahl die Betriebsstruktur verändern: Jedes Warenlager soll ein einzelner Betrieb sein. Ein großer Betriebsrat für ganz Berlin soll damit verhindert werden.

Etwas anders ist der Fall bei Lieferando in Darmstadt. Dort existiert keine feste Niederlassung, die in anderen Städten das Bestehen eines Betriebes markiert. Der eingesetzte Wahlvorstand hatte dennoch eine Wahl für alle Darmstädter Kolleg*innen durchgeführt und seine Rechtsauffassung in die Tat umgesetzt. Sinnvolle Betriebsratsarbeit ist nur vor Ort möglich. Der gewählte Betriebsrat muss sich nun gegen die Wahlanfechtung des Arbeitgebers wehren, aber er ist im Amt.

Einen besonders mutigen Fall gab es bei Footlocker in Berlin. In der Vergangenheit hat der Arbeitgeber immer wieder betont, dass jeder Store ein eigener Betrieb sei. Die Betriebsräte waren daher meist nur einköpfig. Als der Arbeitgeber die Anzahl der Arbeitnehmer*innen im Store des GBR-Vorsitzenden auf vier reduzierte, wollte er den dortigen Betriebsrat sogar ganz abwickeln. Die Kolleg*innen in Berlin wehrten sich, traten geschlossen zurück und setzten einen mutigen Wahlvorstand ein. Der Wahlvorstand stellte fest, dass nicht jeder einzelne Store, sondern die ganze Region Berlin ein Betrieb sei und leitete die Wahl für einen 7-köpfigen, kampfkräftigen Betriebsrat ein. Natürlich hat sich der Arbeitgeber gewehrt und die Wahl angefochten. Der Betriebsrat hat aber bereits in der ersten Instanz gewonnen und leistet seit Monaten hervorragende Arbeit in der neuen Besetzung.

  • Der Wahlvorstand prüft: die Größe des zu wählenden Betriebsrates

Ebenso wichtig ist der Wahlvorstand, wenn es um die Größe des zu wählenden Betriebsrates geht. Im Einzelhandel kann man immer wieder beobachten, dass vor den regulären Betriebsratswahlen die Anzahl der in den einzelnen Betrieben beschäftigten Arbeitnehmer*innen nach unten korrigiert wird. Die Arbeitgeber möchten so erreichen, dass bei den Betriebsratswahlen möglichst kleinere Gremien gewählt werden, zum Beispiel nur noch 5 statt 7 Betriebsratsmitglieder. Auch hier muss der Wahlvorstand politisch handeln. Er hat die Möglichkeit, die Größe des zu wählenden Betriebsrates nicht nach der aktuellen Zahl der Arbeitnehmer*innen im Betrieb zu bestimmen, sondern nach der „in der Regel beschäftigten“ Anzahl. Durch Rückschau und Prognose kann er argumentieren, dass der Betriebsrat in der Regel mehr Kolleg*innen zu vertreten hat und deshalb auch mehr Mitglieder haben muss. Zwei weitere BR-Mitglieder, die vier Jahre die Interessen der Kolleg*innen vertreten, können einen großen Unterschied machen. Auch hier ist es der Wahlvorstand, der Tatsachen schafft.

  • Der Wahlvorstand legt fest: den geeigneten Wahltermin

Auch vermeintlich kleine Fragen können direkten oder indirekten Einfluss auf den Ausgang der Wahl, auf die Wahlbeteiligung und die Zusammensetzung des Betriebsratsgremiums haben: Der Wahlvorstand entscheidet über das Datum der Wahl. Wer ist an diesem Tag im Betrieb? Wer ist vielleicht im Urlaub? Handelt es sich um einen besonders geschäftigen Tag, wird der Arbeitgeber versuchen, einen anderen Termin durchzusetzen, denn die Betriebsratswahl stört den Betriebsablauf. Um einen Wahltermin mit einer potenziell hohen Wahlbeteiligung zu finden, muss der Wahlvorstand erneut politisch denken und sich gegen die Arbeitgeberseite durchsetzen. Da Kolleg*innen erst kandidieren können, wenn sie bereits sechs Monate im Betrieb sind, kann der Wahlvorstand auch hier mit der Auswahl des Wahltermins den Unterschied ausmachen und einzelnen Arbeitnehmer*innen die Kandidatur ermöglichen.

  • Der Wahlvorstand leistet: politische Wahlvorstandsarbeit, ohne parteiisch zu sein

Der Wahlvorstand steht im Dienste der Betriebsratswahlen und vertritt dabei die Interessen der Belegschaft. Er muss die Wahlen so organisieren, dass sich möglichst viele Kolleg*innen beteiligen können und ein arbeitsfähiger und durchsetzungsstarker Betriebsrat gewählt werden kann. Den Einfluss der Arbeitgeberseite hat er dabei zurückzudrängen. Das heißt: politische Wahlvorstandsarbeit machen. Parteiisch darf der Wahlvorstand hingegen nicht sein. In der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kandidat*innen und Listen muss er unbedingt neutral sein, sonst gefährdet er selbst die Legitimität der Wahl.

Nicht zuletzt: Der Wahlvorstand ist auch Repräsentant der Betriebsratswahl. Neben seinen rechtlichen Ermessensspielräumen sollte er diese repräsentative Rolle nutzen, um Werbung für die Institution Betriebsrat und die Mitbestimmung an sich zu machen. Gerade in kleineren Betrieben werben Wahlvorstände auch neue Kandidat*innen und stellen sicher, dass sich auch genug Kolleg*innen aufstellen lassen. Sie halten dem Betriebsrat den Rücken frei, damit dieser bis zum letzten Amtstag tätig sein kann.

Dieser Artikel ist auch als Grußwort an die vielen Tausend Wahlvorstandsgremien zu verstehen, die in diesen Tagen ihre Arbeit aufnehmen. Euer Job ist wichtig – ohne Wahlvorstand kein Betriebsrat. Wenn das nicht politisch ist, was dann?

Betriebsratsgehälter: Zu hoch oder zu niedrig?

„P. verwies den Angeklagten zuständigkeitshalber an H. Dieser war bereit, V. eine Gehaltserhöhung zu bewilligen, da er dessen Arbeit als Betriebsratsvorsitzender schätzte. Er wollte sich dadurch dessen Wohlwollen erhalten, weil er davon ausging, dass dies der VW AG zugutekommen würde.“

„P.“ steht für Ferdinand Piëch, der von 1993 bis 2002 Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG war, „H.“ ist der damalige Personalvorstand Peter Hartz und „V.“ Klaus Volkert, zu dieser Zeit Vorsitzender des Gesamt- und Konzernbetriebsrats. Hinter diesen dünnen Sätzen aus der Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs von 2009 gegen Klaus Volkert verbirgt sich die so genannte VW-Affäre. Volkert hatte überzogene Gehälter und Zahlungen für Flüge, Hotels, Maßanzüge, Zweitwohnungen und Prostituierte in Millionenhöhe von VW eingefordert und kassiert. Zusammen mit den verantwortlichen Managern hat er damit einen katastrophalen Präzedenzfall geschaffen; ein fatales Beispiel, das allen Betriebsräten in Deutschland geschadet hat.

Kein Wunder, dass auch jetzt die Aufmerksam wieder groß war: Vor dem Landgericht Braunschweig mussten sich vier VW Top-Manager gegen den Vorwurf der Untreue verteidigen. Erneut ging es um überhöhte Gehaltszahlungen an Betriebsräte. Volkerts Nachfolger Bernd Osterloh hatte in Spitzenjahren 500.000 bis über 750.000 € kassiert. Ursprünglich war er als gelernter Industriekaufmann mit einem monatlichen Gehalt von umgerechnet 2.500 € gestartet. Die Manager wurden Ende September freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat Revision eingelegt. VW hatte während des Verfahrens die Gehälter zahlreicher Betriebsratsmitglieder gedeckelt. Osterloh selbst ist im Mai von all seinen Ämtern als Betriebsrat zurückgetreten und in eine hochbezahlte Managementposition gewechselt. Anscheinend war ihm das gedeckelte Gehalt zu niedrig.

Ehrenamt, Lohnausfallprinzip … und trotzdem horrende Bezahlung für Einige

Wie kann es sein, dass Betriebsratsmitglieder überhaupt so hohe Gehälter bekommen? Als Mitglied des Betriebsrates wird man für seine Arbeit im Gremium nicht bezahlt. Es handelt sich um ein Ehrenamt. Für dessen Ausübung muss die Arbeitgeberin die BR-Mitglieder unter Fortzahlung aller Bezüge von ihrer üblichen Tätigkeit freistellen. Sie können dann BR-Arbeit erledigen und bekommen in dieser Zeit ihr normales Gehalt weiterbezahlt. Nach § 78 BetrVG dürfen Betriebsräte wegen ihrer Tätigkeit weder benachteiligt noch begünstigt werden. § 37 Abs. 4 BetrVG regelt deshalb, dass BR-Mitglieder auch von Gehaltserhöhungen profitieren können. Nämlich dann, wenn sie ohne BR-Amt nach betriebsüblicher Entwicklung mit einer Beförderung hätten rechnen können. Betriebsräte sollen sich nicht zwischen Amt und Karriere entscheiden müssen.

Vielfach wird argumentiert, dass Betriebsräte wie Osterloh ganz zwangsläufig so viel verdienen müssen. Schließlich verhandeln sie auf hochbezahlten Ebenen; ihre Gegenüber auf Arbeitgeberseite verdienen genauso viel oder teilweise noch deutlich mehr. Sie treffen Entscheidungen, die Millionen von Unternehmensgeldern und das Schicksal Tausender Beschäftigter betreffen. Osterloh war seit 1990 freigestellter Betriebsrat und hat sich 30 Jahre lang zahlreiche Qualifikationen und Fähigkeiten angeeignet. Ist es da nicht gerechtfertigt und vielleicht sogar erforderlich, dass er entsprechend bezahlt wird?

Gleichzeitig liegt die Vermutung nahe, dass diese hohen Vergütungen nicht „einfach so“ gezahlt werden. Osterloh, „der König von Wolfsburg“, hat immer, genau wie Volkert, betont, dass seine Arbeit als Betriebsrat in keiner Weise von seiner Vergütung beeinflusst wäre. Aber ist das glaubhaft? Wenn die Übernahme eines Amtes innerhalb der betrieblichen Interessenvertretung Reichtum bedeutet, dann muss das Einfluss auf die Mitbestimmungskultur haben. Es geht hier noch nicht mal um Käuflichkeit, sondern um den Verlust von Bodenhaftung und Kollegialität – und um die Frage: Kann ich weiterhin Menschen vertreten, mit deren materiellen Lebensbedingungen ich nichts mehr gemeinsam habe und nie mehr haben werde?

Das entscheidende Problem bei der Betriebsratsvergütung

Das wesentliche Problem liegt jedoch woanders: Was ist mit einer Kollegin aus dem Lebensmitteleinzelhandel, die – genau wie Osterloh – über 30 Jahre Betriebsratserfahrung hat? Seit der Eröffnung ihres Marktes ist sie Mitglied des Gremiums, hat es mitgegründet. Sie verdient keine 500.000 € im Jahr, sondern bis zur Rente ihr normales Gehalt als Verkäuferin. Sie hat die letzten 30 Jahre nicht damit verbracht, für eine Erhöhung ihres eigenen Gehalts zu kämpfen, sondern für Verbesserungen, von denen die gesamte Belegschaft profitieren konnte.

Kolleg*innen aus prekär bezahlten Branchen, wie z. B. Einzelhandel, soziale Dienste, Call-Center oder Pflege, müssen auf Basis sehr geringer Gehälter ihre BR-Arbeit leisten. Sie können sich nur schwer auf § 37 Abs. 4 BetrVG beziehen, weil es meist keine betriebsübliche Entwicklung, also kaum Aufstiegschancen in ihren Tätigkeitsbereichen gibt, von denen sie profitieren könnten. Abgesehen davon gehen die Arbeitsgerichte davon aus, dass die Darlegungs- und Beweislast beim Betriebsrat liegt. Das BR-Mitglied muss beweisen können, dass er*sie ohne Betriebsratsamt befördert worden wäre.  Solche Kolleg*innen sind engagiert und für ihre Tätigkeit nicht selten überqualifiziert. Sie hätten gute Möglichkeiten, in anderen Unternehmen eine neue Anstellung zu bekommen und mehr Geld zu verdienen. Wenn sie sich dennoch dafür entscheiden, weiter ihre BR-Arbeit zu machen, zahlen sie faktisch dafür drauf. Nicht nur jetzt, sondern auch noch während der Rente. Wenn sie irgendwann doch eine andere Anstellung suchen, kann man ihnen das nicht verübeln. Häufig kommen diese Kolleg*innen dann bei Gewerkschaften, Parteien oder NGOs unter. Das Gremium und die Belegschaft verlieren damit aber aktive Kolleg*innen, die bei besserer Bezahlung weiter im Betrieb geblieben wären. Und das gerade in den Branchen, in denen mutige Leute dringend gebraucht werden.

Eine Gesetzesreform ist bisher gescheitert

2017 hatte die SPD unter der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles einen Gesetzentwurf vorgelegt, um die Betriebsratsvergütung zu reformieren. Nicht mehr nur die betriebsübliche Entwicklung, sondern auch „die zur Wahrnehmung der Betriebsratstätigkeit erworbenen Qualifikationen und Erfahrungen wie auch regelmäßig wahrgenommenen Aufgaben“ sollten berücksichtigt werden. Die Staatsanwaltschaft hatte in dem oben beschriebenen Fall bereits Ermittlungen aufgenommen. Die Hausdurchsuchungen, auch des Büros von Osterloh, folgten wenige Wochen später. Der Gesetzentwurf wurde deswegen als Lex Osterloh kritisiert – nur geschaffen, um die überhöhten Gehälter von einigen wenigen Betriebsräten aus der Automobilindustrie zu legalisieren. Gescheitert ist er aber nicht an diesem Vorwurf, sondern am Widerstand der Wirtschaftsvertreter*innen in der CDU. Sie hatten verstanden, dass vor allem Betriebsräte in kleinen und mittleren Unternehmen von der Reform profitieren würden. Die damit einhergehende Stärkung von betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen sollte verhindert werden.

Die Linke hat eine ähnliche Forderung erhoben: Betriebsräte, die viel Erfahrung im Gremium gesammelt, Verantwortung in Ausschüssen oder als Vorsitz übernommen und sich in vielen Schulungen weitergebildet haben, sollen die Möglichkeit haben, mehr zu verdienen. Wichtig ist ein klarer Rechtsanspruch auf diese Vergütung. Er muss leicht einklagbar sein und darf nicht vom guten Willen der Arbeitgeberin abhängen. Nur dann kann der Betriebsrat seine Unabhängigkeit wahren.

Transparenz muss Pflicht sein

Wenn Betriebsräte infolgedessen nun mehr verdienen als ihre Kolleg*innen, die dieselbe Tätigkeit ausüben, besteht dann nicht weiterhin das Problem, dass sich der Betriebsrat von der Belegschaft abhebt und sich eine Betriebsrats-Elite im Betrieb bildet? Um das zu verhindern, muss die Gehaltsstruktur der BR-Mitglieder offen und transparent gegenüber den Kolleg*innen kommuniziert werden. Hinterzimmer-Deals zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung müssen ausgeschlossen werden. Die Bezahlung für ein (betriebs)öffentliches Amt ist keine Privatsache. Die Kolleg*innen haben ein Recht zu erfahren, was ihr Betriebsrat verdient. Sie sollten ein Interesse daran haben, dass ihre Betriebsräte nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig verdienen. Bei der Offenlegung von Gehältern sollte nicht nur der Betriebsrat in den Blick genommen werden. Die Transparenzpflicht muss sich genauso auf die Führungsebene beziehen. Auch hier besteht ein berechtigtes Interesse. Sollte nur der Betriebsrat verpflichtet sein, seine Vergütung öffentlich zu machen, würde auch das wieder eine unangemessene Benachteiligung darstellen. Es wäre wichtig, dass es hier zügig zu einer entsprechenden Änderung im BetrVG kommt. Das Schicksal von Bernd Osterloh und anderen Co-Manager*innen sollte uns dabei weniger interessieren als die vielen Betriebsrats-Kolleg*innen, die für ihre betriebspolitische Arbeit auf verdiente Gehälter verzichten.

Betriebliche Mitbestimmung unter der Ampelkoalition

Was bringt “die Ampel” im Bereich Arbeit und Mitbestimmung? Um die Hinweise aus dem Sondierungspapier zu deuten können nicht nur die Wahlprogramme, sondern vor allem auch die von FDP und den Grünen eingebrachten Anträge aus der vergangenen Legislatur als Literaturschlüssel dienen.

Den Ausführungen von Robert Habeck bei Markus Lanz[1] folgend will die Ampelkoalition Dissens in inhaltlichen Fragen nicht mittels von Kompromissen lösen. Es soll nicht jeweils eine Mittelposition bei strittigen Fragen erarbeitet werden. Vielmehr sollen in unterschiedlichen Fragen jeweils die Maximalposition der einzelnen Partner Geltung bekommen. Das ist anders als noch bei der GroKo wo zum Beispiel beim Betriebsrätemodernisierungsgesetz oder der Brückenteilzeit die Position der SPD auf Drängen der Union so weit verändert werden musste, dass das eigentliche Regelungsziel in der Praxis nicht mehr erreicht werden konnte.

In Bezug auf Mitbestimmung findet sich nur ein Satz im Sondierungspapier: „Die Mitbestimmung werden wir weiterentwickeln.“ Der Begriff „Weiterentwicklung der Mitbestimmung“ stammt aus einem Beschluss des SPD-Parteivorstands[2]. Man könnte also vermuten, dass an dieser Stelle die sozialdemokratischen Positionen Vorrang haben werden.

Die SPD hat der betrieblichen Mitbestimmung in diesem Beschluss eine wichtige Rolle zugewiesen. Das Betriebsrätemodernisierungsgesetz sei nur der Anfang gewesen. Das ist erfreulich und nicht selbstverständlich. Denkbar wäre auch gewesen, dass nach der erst vor kurzem Verabschiedeten Novelle das Thema erst Mal ad Acta gelegt wird. Stattdessen soll es nun eine „große Reform der Betriebsverfassung“[3] geben. Im Wahlprogramm 1998, dem Programm, auf das die letzte größere Reform 2001 folgte, war nur von „Ausbau der Mitbestimmung am Arbeitsplatz“[4] die Rede.

Konkret geht es zum einen um Korrekturen am Betriebsrätemodernisierungsgesetz. Die Punkte, die auf Druck der Union verändert werden mussten, sollen nun korrigiert werden. Die geplante Reform soll also nachträglich vollendet werden. So sollen Vorfeldinitiator*innen einen „umfassenden Kündigungsschutz“ bekommen und damit auch gegen betriebsbedingte Kündigungen geschützt werden, was aktuell nicht der Fall ist. Sie sollen außerdem „in den kollektiven Kündigungsschutz nach der Betriebsverfassung einbezogen“ werden. Damit ist gemeint, dass sie in § 103 Abs. 1 BetrVG genannt werden und einer außerordentlichen Kündigung vor Ausspruch der Betriebsrat bzw., weil dieser ja noch nicht existiert, das Arbeitsgericht zustimmen muss. Beides war noch im Referentenentwurf zum Betriebsrätestärkungsgesetz des SPD-geführten BMAS so vorgesehen, hatte es aber nicht ins Betriebsrätemodernisierungsgesetz geschafft.

Betriebsräte sollen „ein generelles Recht auf Hinzuziehung von externen Sachverständigen“ bekommen. So liest es sich im Beschluss des Parteivorstandes. Vermutlich ist damit aber lediglich der Sachverstand im Rahmen von Fragen technischer Überwachungseinrichtungen nach § 87 Abs. 6 BetrVG gemeint, weil die Forderung unter der Überschrift „Digitalisierung der Arbeitswelt“ gefasst ist und weil sich auch dies so im Referententwurf fand. Im Betriebsrätemodernisierungsgesetz ist dann nur noch der Sachverständigenbezug bei Einführung und Anwendung von Künstlicher Intelligenz geregelt.

Die Formulierung zur Mitbestimmung bei der Berufsbildung sind so zu verstehen, dass die SPD die neuartige Form der Einigungsstelle ohne Spruchfähigkeit wieder abschaffen will und ein echtes erzwingbares Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei Weiterbildungsmaßnahmen fordert. In der GroKo war dies bereits im Koalitionsvertrag ausgeschlossen worden.

Über den eigenen Referentenentwurf hinaus geht die Forderung auch bei der Einführung von mobiler Arbeit eine zwingendes Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG zu regeln. Im Betriebsrätemodernisierungsgeste ist dies nur bei der Ausgestaltung der Fall und auch der Referentenentwurf hatte keine weitergehende Forderung.

Auch Klarstellungen in Bezug auf KI aus dem Betriebsrätemodernisierungsgesetz sollen nun um ein Mitbestimmungsrecht bei Planung, Rahmenfestlegung und Maßnahmen des Einsatzes von KI erweitert werden.

Bemerkenswert ist die Forderung eines „Initiativ- und Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte bei allen Fragen der quantitativen und qualitativen Personalplanung und Personalbemessung“. Also eine Aufnahme von § 92 BetrVG in den Katalog der Mitbestimmungsrechte. Und dies unter explizitem Hinweis auf steigende Arbeitsbelastung und die damit im Zusammenhang stehende Zunahme psychischer Erkrankungen.

Weitgehend ist auch die Forderung nicht nur arbeitnehmerähnliche Personen, sondern auch Dienst- und Werkverträge in den Geltungsbereich der Mitbestimmung einzubeziehen. Allerdings wird hier nicht ausgeführt, in welcher Form das der Fall sein soll, ob durch aktives und passives Wahlrecht von betroffenen Beschäftigten oder durch entsprechende Mitbestimmungsrechte des Gremiums. Als Ziel wird aber explizit ein Entgegenwirken gegen die „zunehmende Fragmentierung von Belegschaften“ genannt.

Außerdem sollen Behinderung von BR-Wahlen und BR-Arbeit als Offizialdelikt eingestuft werden und zusammen mit den Bundesländern die Errichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften initiiert werden.

Ein Beschäftigtendatenschutzgesetz soll erlassen werden. Hierzu hatte das BMAS in der vergangenen Legislatur bereits einen Beirat unter Leitung von Herta Däubler-Gmelin eingesetzt. Der Koalitionsvertrag hatte einen Prüfauftrag vorgesehen.

In der Verhandlungsgruppe für den Bereich Arbeit sind bei der SPD keine Jusos vertreten. Die jüngste ist Ronja Endres. Sie ist Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) Bayern und hat bei der IGBCE mal BR-Seminare geteamed. Die Afa geht in einer Pressemitteilung aus dem Jahr 2020[5] zumindest in einem Punkt über die Forderungen im Parteivorstandsbeschluss hinaus, indem sie einen neuen Betriebsbegriff fordern. Regelungsziel soll die Integration von Crowdworker in die Betriebsverfassung sein. Auch Yasmin Fahimi ist ehemalige IGBCE Funktionärin. In der Verhandlungsgruppe ist sie vermutlich aber vor allem für Fragen von Weiterbildung und Qualifizierung zuständig, dazu hat sie in der vergangenen Legislatur in der Enquete-Kommission Berufliche Bildung gearbeitet. Selbstverständlich ist auch der aktuelle Arbeitsminister Hubertus Heil an den Verhandlungen aktiv beteiligt.

Die Grünen haben in der vergangenen Legislatur weitgehende und konkrete Anträge zur Mitbestimmung vorgelegt. In keinem Punkt sollten ihre Forderungen mit den Positionen der SPD in Dissenz liegen. Explizit selbst erhoben haben sie die Forderungen nach: Besserem Schutz für Wahlinitiator*innen[6], Recht auf Hinzuziehung von Sachverstand[7], Behinderungen von Betriebsräten als Offizialdelikt mit Schwerpunktstaatsanwaltschaften verfolgen[8], Mitbestimmung bei der Personalplanung[9], erzwingbare Mitbestimmung bei Weiterbildung und Qualifizierung[10] und Einbezug von arbeitnehmerähnlichen Personen und Werkvertragsbeschäftigte in die Betriebsverfassung.[11]

In bestimmten Punkten gehen sie über die Forderungen der SPD hinaus. So wollen sie, dass befristet Beschäftigte BR-Mitglieder einen Entfristungsanspruch entsprechend § 78a BetrVG erhalten.[12] Der Betriebsrat soll ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht bei der Frage von Gleichstellung sowie Vereinbarkeit von Familie und Beruf bekommen.[13] Genauso soll er ein Mitbestimmungsrecht im Hinblick auf die Klimabilanz des Unternehmens bekommen.[14] Ein Zustimmungsverweigerungsrecht soll auch für Werkvertragsbeschäftigte geschaffen werden, wenn diese länger als drei Monate im Betrieb eingesetzt werden sollen.[15]

Die Frage ist, welchen Stellenwert betriebliche Mitbestimmung im Gesamtkontext der grünen Forderungen haben wird. Im Wahlprogramm fand sich zumindest dieser Satz: „Betriebsräte, die sich für Mitarbeiter*innen einsetzen, brauchen auch selbst mehr Schutz. Gleiches gilt auch für die Beschäftigten, die erstmals einen Betriebsrat gründen wollen. Die Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte, Personalräte und auch Jugend- und Ausbildungsvertretungen wollen wir ausbauen und modernisieren, unter anderem wenn es um Personalentwicklung, Weiterbildung, Standortverlagerungen ins Ausland, die Stärkung von Frauen, die Förderung von Vielfalt oder die Verbesserung der Klimabilanz im Unternehmen geht.“[16]

Neben Beate Müller-Gemecke sitzt Frank Bsirske und Wolfgang Strengmann-Kuhn in der Verhandlungsgruppe. Die Leiterin Katharina Dröger ist Wirtschaftspolitikerin. Auch hier sind keine jüngeren Abgeordneten vertreten.

Die FDP hatte in der vergangenen Legislatur im Kontext der Debatte um das Betriebsrätemodernisierungsgesetz einen Antrag zur betrieblichen Mitbestimmung eingebracht. Neben der nun Gesetz gewordenen Forderung nach virtuellen BR-Beschlüssen forderten sie darin die Möglichkeit von Online-Betriebsratswahlen.[17] Diese Forderung wird auch von den Grünen geteilt.[18] Beide wollen es jedoch dem Wahlvorstand überlassen, ob eine Wahl online der in Präsenz stattfinden soll. Genauso fordert die FDP in dem genannten Antrag die Beschlussfassung im Umlaufverfahren zu ermöglichen. Im Gegensatz zur Beschlussfassung im Rahmen einer Videokonferenz wäre dies ein qualitativ wesentlich größerer Einschnitt. Dies ist zumindest ein kleiner Hinweis darauf welche Stellung die FDP der betrieblichen Mitbestimmung zuweist. Ein Interesse an Betriebsräten als Moment betrieblicher Demokratie besteht nicht. Stattdessen sollen Betriebsräte im Interesse des Unternehmens als Wertschöpfungskörper funktionieren und ihren Beitrag leisten.

Wie schon in den Wahlprogrammen 2013 und 2017 finden sich auch im aktuellen Programm keine Stellen zur Mitbestimmung. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die FDP lange und wiederholt mitbestimmungsfeindliche Positionen vertreten hat.

Von 2016 stammt ein Beschluss des Bundesvorstandes. Die FDP war damals nicht im Bundestag, konnte also keine Anträge einbringen. 7 von 11 Mitgliedern sind heute ebenfalls Mitglied des Bundesvorstandes. In dem Beschluss forderte die FDP eine „liberale Perspektive für die betriebliche Mitbestimmung“

Konkret sollte ein Quorum von 25 Prozent der Belegschaft bei BR-Gründung festgeschrieben werden; „Wir befürworten die Einrichtung von Betriebsräten, wenn die Mitarbeiter dies wünschen.“ Allerdings forderten sie auch die „frühzeitige Absicherung von Mitarbeitern, die Betriebsräte gründen wollen“. Ähnlich wie dies nun im Schutz von Vorfeldinitiator*innen im Betriebsrätemodernisierungsgesetz umgesetzt wurde.

In gleicher Weise die Rechte der Belegschaft gegen den Betriebsrat stärken wollend, forderten sei ebenfalls die Möglichkeit den Betriebsrat während der laufenden Amtszeit abwählen zu können. „Hier muss allerdings ein sehr hohes Quorum gewählt werden, um radikalen Aktivisten auch bei unpopulären Verhandlungsergebnissen mit dem Arbeitgeber kein Forum zu einem Wahlkampf zu geben, der den Betriebsfrieden beeinträchtigen kann.“ Auf Betriebsversammlungen hätte der Betriebsrat auch über die durch seine Arbeit entstandenen Kosten Rechenschaft ablegen sollen.

Mitbestimmungsverfahren an sich sollten einer nicht näher definierten Frist unterworfen werden. Hier findet sich bereist der Wunsch Mitbestimmung möglichst zu beschleunigen und Aushandlungs- und Vermittlungsprozessen möglichst wenig zeitliche und materielle Ressourcen zuführen zu müssen. Gleichzeitig fordert die FDP hier jedoch auch einen Unterlassungsanspruch des BR gegen den AG bei mitbestimmungsrelevanten Fragen.

Interessant ist jedoch, dass zumindest für karikative und erzieherische Einrichtungen der Tendenzschutz fallen solle und Betriebe des Flugverkehrs nun in die Betriebsverfassung integriert werden sollten (letzteres ist mittlerweile geschehen).

Noch wesentlich dramatischer waren die Forderungen der FDP im Jahr 2001 im Kontext der letzten großen Reform. Entsprechend des damaligen Antrages[19] Sollten Betriebsräte nur ab 20 Arbeitnehmer*innen gegründet werden und dann auch nur, wenn 50 Prozent der Belegschaft dem zugestimmt hätten. Die Gremiengröße sollte erheblich reduziert werden und Freistellungen nach § 38 BetrVG hätte es erst ab 500 Arbeitnehmer*innen gegeben.

Die Mitbestimmungsrechte des Gremiums sollten an die Leistungsfähigkeit des Unternehmens geknüpft werden. Die Mitbestimmungsrechte aus § 87 BetrVG hätte es erst in Betrieben mit mehr als 300 Arbeitnehmer*innen gegeben. Teilzeitbeschäftigte sollten dabei nicht als volle Arbeitnehmer*innen, sondern nur anteilig gezählt werden.

Die Einigungsstelle sollte beschleunigt und die Kosten gesetzlich definiert werden. Dem Betriebsrat sollten Kopplungsgeschäfte jeder Art verboten werden.

Betriebsräte sollten ein begrenztes, gesetzlich definiertes Budget für ihre Ausgaben zur Verfügung haben, das hälftig von den Arbeitnehmer*innen selbst getragen werden sollte.

Im Rahmen der Frage von „Bürokratieabbau“ forderte die FDP 2002[20] das Beratungsrecht nach § 92a abzuschaffen, genauso wie die Pflicht des Arbeitgebers auf Betriebsversammlungen und Betriebsräteversammlungen Auskunft über den Stand der Gleichstellung von Frauen und Männern und der Integration von ausländischen Beschäftigten zu berichten. Die Förderung der tatsächlichen Gleichstellung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollte nicht mehr Teil der Personalplanung sein müssen. Genauso sollte es dem Abbau von Bürokratie nutzen, wenn der Unternehmen nicht mehr mit dem Betriebsrat über Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Betrieb beraten hätte müssen (!)

Die FDP – so wird weithin vermutet – sei mittlerweile eine andere Partei. Der einflussreiche Sozialpolitiker Johannes Vogel ist mittlerweile eines der Gesichter der Mitbestimmungskampagne der Hans-Böckler-Stiftung. Unbedingter Wirtschaftsliberalismus habe einer breiteren Idee von bürgerlichen Freiheiten Platz gemacht, die auch Mitbestimmung zulassen könnte. Trotzdem ist anzunehmen, dass betriebsratsfeindliche Vorstellungen immer noch in den Genen der Partei schlummern und von Wähler*innen und Unterstützer*innen weiterhin geteilt werden. Die FDP ist in den Verhandlungen damit wahrscheinlich die Wild-Card. Wie stark sie sich gegen Verbesserungen im BetrVG wehren wird ist noch unklar. Von der bisherigen Konstellation her müsste man damit rechnen, dass die SPD die meisten ihrer Forderungen wird realisieren können, wobei die Grünen wohl eher keines ihrer progressiveren Ziele erreichen werden. Damit die FDP auch ein Gestaltungsergebnis vorweisen kann, wird es in Zukunft wohl die Möglichkeit von Online BR-Wahlen geben.


[1] Markus Lanz, 20. Oktober 2021

[2] Beschluss des SPD-Parteivorstandes vom 21.06.2021

[3] Beschluss Seite 4

[4] Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit

SPD-Programm für die Bundestagswahl 1998, S. 12

[5] https://afa.spd.de/mitteilungen/mitteilungen/news/lost-in-transformation-afa-wirtschaftsdemokratie-gehoert-auf-die-tagesordnung/09/12/2020/

[6] Betriebsratswahlen erleichtern – Aktive Beschäftigte besser schützen, Drucksache 19/1710

19. Wahlperiode 18.04.2018.

[7] ebenda

[8] ebenda

[9] Digitalisierung – Update für die Mitbestimmung, Drucksache 19/16843

19. Wahlperiode 28.01.2020

[10] ebenda

[11] Digitalisierung – Update für die Mitbestimmung, Drucksache 19/16843

19. Wahlperiode 28.01.2020

[12] Betriebsratswahlen erleichtern – Aktive Beschäftigte besser schützen, Drucksache 19/1710

19. Wahlperiode 18.04.2018.

[13] Digitalisierung – Update für die Mitbestimmung, Drucksache 19/16843

19. Wahlperiode 28.01.2020

[14] Mehr Sicherheit für Beschäftigte im Wandel – Qualifizierungs-Kurzarbeit

Einführen, Drucksache 19/17521

19. Wahlperiode 03.03.2020

[15] Digitalisierung – Update für die Mitbestimmung, Drucksache 19/16843

19. Wahlperiode 28.01.2020

[16] Bundestagswahlprogramm 2021, S. 105

[17] Beides Betriebsrat 4.0 − Potenziale der Digitalisierung nutzen, Drucksache 19/28984

19.Wahlperiode

[18] Betriebsratswahlen erleichtern – Aktive Beschäftigte besser schützen, Drucksache 19/1710

19. Wahlperiode 18.04.2018.

[19] Reform der Mitbestimmung zur Stärkung des Mittelstandes, Drucksache 14/5764

14. Wahlperiode 04. 04. 2001

[20] Abbau von Bürokratie sofort einleiten, Drucksache 15/65

15. Wahlperiode 13. 11. 2002

Streiks und Betriebsratsgründung bei Gorillas – eine Geschichte der Arbeiter*innenbewegung

Die Gorillas Technologies GmbH ist ein so genanntes „Einhorn“ – ein Unternehmen, das noch vor Börsengang einen Marktwert von über einer Milliarde US-Dollar erreicht hat. Wie wird man ein Einhorn? Durch eine große Menge an Risikokapital. Und wohin fließt das in der Regel? In Unternehmen mit einem schnellen und ausbaubaren Wachstum. Gorillas wurde im März 2020 in Berlin gegründet, ist mittlerweile in 18 deutschen Städten und sechs Ländern aktiv und hat nach Schätzungen über 11.000 Beschäftigte. Schon neun Monate nach der Gründung wurde der Einhorn-Status erreicht – eine wirtschaftliche Märchengeschichte.

Ziemlich schnell wurde aber nicht mehr über das atemberaubende Wachstum des Unternehmens gesprochen, sondern über die schlechten Arbeitsbedingungen der Fahrer*innen, deren Aufgabe es ist, Lebensmittel in kürzester Zeit von dezentralen Lagerhäusern per Fahrrad zu den Kund*innen zu transportieren. Es waren die Beschäftigten selbst, die es geschafft haben, die öffentliche Wahrnehmung des Unternehmens zu verändern und durch ihre eigene Perspektive zu prägen. Gorillas ist nicht die fairy tale eines innovativen Start-Ups, das in Rekordzeit seinen Eignern und Investoren Milliarden-Renditen erwirtschaften konnte. Gorillas ist vielmehr die Geschichte einer sehr aktiven und intelligenten Belegschaft, die hervorragend organisiert ist und mit kreativen Ideen einer übergriffigen und überforderten Geschäftsführung die Grenzen aufgezeigt hat.

Die Geschichte ist noch nicht vorbei, die Auseinandersetzungen gehen weiter. Der nächste geplante Schritt ist die Gründung eines Betriebsrates bei Gorillas in Berlin. Wir haben im Juli mit einem Kollegen aus dem Gorillas Workers Collective (GWC) darüber gesprochen, wie es dazu kam. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt und wird hier in Auszügen und übersetzt wiedergegeben.

GWC: Ich möchte zu Beginn klarstellen, dass wir noch keinen Betriebsrat haben.

Bewegung mit Recht: Das weiß ich. Aber Ihr unternehmt Dinge, die für Betriebsräte von Interesse sind. Ich glaube, viele Betriebsräte kümmern sich noch zu viel um sich selbst, wenn sie sich mehr darum kümmern sollten, ihre Kolleg*innen zu organisieren.

GWC: Genau. Davor haben wir auch Angst. Wir möchten so etwas gerne verhindern. Aber das kommt natürlich auf den Ausgang der Wahl an.

Bewegung mit Recht: Wie hat es bei Euch angefangen?

GWC: Es geht schon eine längere Zeit, und es war nicht einfach. Im Februar waren die ersten Streiks. Es hatte in Berlin stark geschneit. Das war an einem Sonntag, und am Montag kamen wir alle zur Arbeit. Gorillas hatte keine Maßnahmen ergriffen. Die Fahrräder, die wir benutzen, sind nicht geeignet, um in hohem Schnee zu fahren. Damals war das Unternehmen noch nicht so groß, und viele kannten sich untereinander. Wir waren ca. 700 Kolleg*innen, mittlerweile sind wir allein in Berlin über 2.000.

Damals fuhren wir auch noch unterschiedliche Lagerhäuser an. Im März hat Gorillas das dann verändert, und jetzt hat jede*r nur noch ein Lagerhaus, zu dem wir fahren. Der offizielle Grund für die Änderung war Corona. Ich glaube aber, dass der eigentliche Grund darin liegt, die Kommunikation zwischen den einzelnen Kolleg*innen über die einzelnen Lagerhäuser hinaus zu erschweren. Deswegen waren die ersten Streiks nämlich auch so erfolgreich.

Die Leute sind morgens zur Schicht gekommen und haben darüber abgestimmt, ob sie arbeiten oder nicht. In zwei von sieben Lagerhäusern wurde dann entschieden, an diesem Tag nicht auszuliefern. Andere Fahrer*innen sind beim Ausliefern gestürzt, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren oder einfach gelaufen. Um 13 Uhr hat Gorillas dann Lieferungen für den Tag abgebrochen.

Am Tag danach hat Gorillas die Lieferzeiten eingeschränkt auf 10:00 bis 20:00 Uhr. Das war allerdings keine wirkliche Lösung. Wir hatten immer noch keine Ausrüstung, Winterkleidung, Hosen etc. An diesem Tag waren es dann schon drei Lagerhäuser, die sich entschieden, nicht auszuliefern. Es breitete sich aus, und Gorillas hat dann für eine Woche alle Lieferungen beendet und die Leute bei voller Bezahlung nach Hause geschickt.

Schon davor gab es Initiativen, zum Beispiel einen offenen Brief an die Geschäftsführung mit verschiedenen Punkten: das Gewicht der Rucksäcke, ungleiche Bezahlung, mangelnde Ausrüstung und andere Punkte. Damals war auch schon die Idee in der Luft, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Im Rahmen des Streiks im Februar hatten mehrere Leute sich getroffen, erst online und dann auch in Präsenz, und die Gruppe gegründet – Gorillas Workers Collective. Wir wussten anfangs noch nicht genau, was wir taten, aber die Idee war, die Leute zu organisieren und dazu zu bringen, in Gewerkschaften einzutreten und alle über ihre Rechte aufzuklären. Wir selbst kannten das deutsche Arbeitsrecht damals noch nicht sehr gut. Ein Vorteil war, dass einige von uns Deutsch sprechen konnten – das ist bei Gorillas selten. Damit hatten wir Zugang zu mehr Informationen.

Ich selbst wurde damals Mitglied der FAU und dann auch Mitglied der NGG. Wir bauten hier unsere Kontakte aus und wurden auch unterstützt. Seit Februar haben wir uns wöchentlich getroffen. Wir schreiben Hilfestellungen für unsere Kolleg*innen, zum Beispiel, wie eine Krankmeldung funktioniert oder wie man seinen Urlaub einreicht und anderes; auch Positionspapiere zur Bezahlung und dem Gewicht der Lieferungen etc.

Wir haben das dann auch öffentlich gemacht, z. B. mit einem Threema Channel. Wir publizieren unsere Informationen in verschiedenen Sprachen: Spanisch, Türkisch, Italienisch etc. Die häufigsten Sprachen bei Gorillas decken wir ab. Auch Freizeittreffen haben wir organisiert. Wir machen das alles in unserer Freizeit. Das ist ein Problem. Viele von uns arbeiten in Vollzeit und finden dann nicht so einfach die Zeit, um sich zu engagieren. Viele wollen sich auf die eine oder andere Art beteiligen, haben aber nicht genug Zeit dafür. Die Beteiligung fluktuiert sehr stark.

Der Punkt, an dem das Ganze dann eskalierte, war, als einer unserer Kollegen, der auch an der Gründung des GWC beteiligt war, gekündigt wurde. Die Kündigung kam nicht vom Manager vor Ort, sondern von außerhalb des Lagerhauses, irgendwo darüber. Der Kollege hatte vorher unter seinem echten Namen auf Social Media eine Unterstützung für die BR-Gründung in einem anderen Unternehmen (auch Kurierfahrer) gepostet. Das könnte der Grund gewesen sein. Er war noch in der Probezeit, also musste kein offizieller Grund angegeben werden.

Wir haben uns dann rechtlich beraten lassen. Der Anwalt, mit dem wir auch jetzt zusammenarbeiten, hat uns gesagt, dass die Kündigung nicht wirksam ist. Sie war nicht von der richtigen Person unterschrieben. Die Lösung, die wir gefunden haben, war, den Prozess zur Wahl eines Betriebsrates zu starten. Der Kollege hat also seine Kündigung angefochten und gleichzeitig als einer von dreien zur Wahl eines Betriebsrates eingeladen. Ab diesem Zeitpunkt konnte ihm dann nicht mehr erneut gekündigt werden.

Bewegung mit Recht: Der Grund für die Gründung des Betriebsrates war also, Euren Kollegen vor einer Kündigung zu schützen?

GWC: Es war auf jeden Fall eine strategische Entscheidung. Wir sind immer noch nicht ganz überzeugt, wenn es um den Betriebsrat geht. Der Betriebsrat hat einige Möglichkeiten, aber das auch nur eingeschränkt. Es gibt ja keine Sammelklagen. Wenn das Unternehmen zum Beispiel die Entgeltfortzahlung nicht rechtzeitig überweist, muss das jede*r für sich selbst klären. Deswegen frage ich mich auch, wie ein Betriebsrat unsere Probleme bei Gorillas wird lösen können.

Mittlerweile sind wir besser organisiert. Wir haben ein besseres Netzwerk und sind im Kontakt mit mehr Leuten. Wichtig an diesen Streiks ist nicht nur, dem Unternehmen zu zeigen, dass man bestimmte Arbeitsbedingungen nicht akzeptiert, sondern auch die Möglichkeit, mit vielen anderen Kolleg*innen in Kontakt zu kommen und sie auf Deine Seite zu kriegen. Sie kennen Dich dann und wissen, dass sie sich in Zukunft an Dich wenden können. Viele, die Probleme mit dem Unternehmen haben, kommen zu uns. Direkt zu unserem Kollektiv, um das Problem zu lösen. Wir haben eine Parallelstruktur aufgebaut und darüber einen gewissen Einfluss bekommen.

Gorillas befristet alle Arbeitsverhältnisse auf ein Jahr. Somit drohen die Verträge von Wahlvorstandsmitgliedern und potenziellen Betriebsratskandidat*innen auszulaufen. Gegen diese Behinderung der Betriebsratswahl durch „kalte Kündigungen“ setzen sich die Fahrer*innen aktuell vor den Berliner Arbeitsgerichten zur Wehr. Der Ausgang der Auseinandersetzung ist offen, die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt.